„Ich kann es noch nicht fassen“

Wie war dein Start im Bundestag?
In der Wahlnacht habe ich stundenlang gezittert, ob ich wirklich in
den Bundestag einziehen kann. Erst gegen halb sieben am Montagmorgen stand fest – ja, ich habe es geschafft. Umso glücklicher und dankbarer bin ich jetzt, hier zu sein. Nachdem ich die ganze Nacht nicht geschlafen habe, ging es dann direkt mit dem Zug nach Berlin mitten ins Geschehen. Es war – und ist – beeindruckend, jetzt hier zu sein.
Mein Start war also nervenaufreibend, aber dafür umso schöner. Als Linksfraktion haben wir auch so schnell es ging ein zweitägiges Treffen durchgeführt, um gemeinsam den Start zu planen. Hier wurde ich zur neuen frauenpolitischen Sprecherin der Fraktion gewählt, was natürlich eine tolle Aufgabe ist, über die ich mich sehr freue. Alles in allem hätte es kaum besser laufen können.
Was war das Verrückteste, das du bisher erlebt hast?
Das ist eine gute Frage – ganz oft kann ich es noch nicht fassen, dass ich jetzt im Bundestag sitze. Ich bin schon seit Jahren politisch aktiv. Im Jugendverband meiner Partei als Landessprecherin (das ist bei uns der Vorstand), später als Landesvorsitzende meiner Partei in Niedersachsen, zudem als Kommunalpolitikerin im Rat der Stadt Osnabrück. Alles ehrenamtlich neben meiner Arbeit. Jetzt die Chance zu haben, hauptberuflich Politik zu machen, ist verrückt – im positivsten Sinn. Und dass ich jetzt als Abgeordnete einen politischen TikTok-Account habe, finde ich auch immer noch ziemlich verrückt.

Wie sieht dein Leben als Mitglied des Bundestages aktuell aus?
In den Sitzungswochen findet nicht nur das Plenum statt, sondern auch Fraktionssitzungen, in denen sich alle Abgeordneten beraten. Auch der Vorstand, dem ich als frauenpolitische Sprecherin angehöre, trifft sich. Zudem gibt es Besprechungen mit meinem Team und ganz viele Termine zum Kennenlernen – vor allem mit Initiativen und Vereinen, aber auch mit den Menschen in Partei und Fraktion, die sich
mit den Themen beschäftigen, an denen ich auch arbeite.
Gleichzeitig arbeiten wir, also mein Team und ich, uns in inhaltliche Fragen ein und basteln an unserer Öffentlichkeitsarbeit. Es ist mir sehr wichtig, mit den Menschen in Kontakt zu kommen, zu zeigen, was hier passiert und Fragen zu beantworten, aber auch Ideen für meine Arbeit mitzunehmen.
Ist in Berlin schon alles organisiert? Neue Wohnung, neues Büro, Mitarbeiter …
Am Anfang steht man natürlich mit vielen Fragezeichen da – zum Glück sind in meiner Fraktion sowohl die Abgeordneten als auch die Mitarbeitenden sehr hilfsbereit und unterstützen bei Fragen jederzeit. Mittlerweile ist auch schon etwas Struktur ins Chaos gekommen: Ich habe eine Wohnung, die ich langsam einrichte, mein wunderbares Team in Berlin, ohne das ich die letzten Wochen aufgeschmissen gewesen wäre, steht, und langsam stapeln sich auch weniger Kartons im Büro. Jetzt ist dann auch Zeit, alle Abläufe zu überblicken und inhaltlich zu arbeiten.
Wie hast du deine erste Sitzungswoche erlebt?
Die erste Sitzungswoche war natürlich besonders spannend, weil sich der Bundestag neu konstituiert hat. Zum ersten Mal konnte ich im Plenarsaal dabei sein, viele Leute sehen, die ich nur aus dem Fernsehen kenne – das war auf jeden Fall aufregend. Und in der ersten Sitzung wurde mir auch nochmal besonders klar, dass ich jetzt ein Teil des Bundestages bin und die Chance habe, mich hier für unsere Politik einzusetzen. Ich weiß natürlich, dass Politik auch anstrengend ist, dass gute Ideen oft nicht gehört werden und es sehr frustrierend werden kann. Aber aktuell ist es ein wenig wie mit einer „rosa Brille“ – ich hoffe, dass ich die noch eine Weile behalte.
In welchen Ausschüssen möchtest du arbeiten und warum?
Welche Ausschüsse es unter der neuen Regierung geben wird, steht noch nicht fest. Ich möchte in dem Ausschuss mitarbeiten, der sich mit Kindern, Jugend, Familien und Frauen beschäftigt. Zum einen, weil ich jahrelang in der Jugendhilfe gearbeitet habe, bevor ich in den Bundestag gekommen bin, und zum anderen, weil ich frisch gewählte frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion bin.
Zeitreise ins Jahr 2025: Was möchtest du dann im Rückblick auf die vier Jahre als Volksvertreterin sagen können und was möchtest du erreicht haben?
Mein Ziel ist es, den Menschen eine Stimme zu geben, die zu wenig gehört werden. Gerade auch Kinder und Jugendliche müssen viel stärker eingebunden werden. Dafür habe ich mich auch schon in meiner früheren Arbeit eingesetzt und z.B. in Schulen mit Kindern und Jugendlichen zum Thema Demokratie gearbeitet. Ich hoffe, dass ich viele Menschen für Politik interessieren und begeistern kann.
Natürlich will ich am Ende sagen können, dass meine Arbeit einen Mehrwert für die Menschen hatte, indem ich dafür sorgen konnte, dass Politik sozial gerechter wird. Das wäre z.B. so, wenn wir endlich eine Kindergrundsicherung bekommen – es muss für Familien mehr Unterstützung, also auch mehr Geld, geben.
Heidi Reichinnek ist seit dem 2. März 2019 Landesvorsitzende der Linken Niedersachsen und war 2017 bis Anfang 2019 Mitglied des Landessprecher-Rates der Linksjugend. Sie hat Politik und Wirtschaftswissenschaft studiert. 2021 hat sie das erste Mal für den Bundestag kandidiert, ihr Wahlkreis ist Osnabrück-West. Mehr Infos findet ihr auch auf bundestag.de.
(lh)