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NGO-Mitarbeiterin „Wiederaufbau muss rechtzeitig beginnen“

Ein Teil der Ukraine steht unter Wasser, in anderen Teilen gibt es kein Trinkwasser. Trotzdem laufe der Wiederaufbau auf Hochtouren, erzählte uns Darya Romanenko von Help und berichtet von der Stimmung im Land.

Porträt von Dorya Romanenko

Kiew sei voller junger Leute, erzählt uns Darya Romanenko im Interview. „Es gibt sogar Raves, die vor der Ausgangssperre stattfinden.“ © Help – Hilfe zur Selbsthilfe

Sie arbeiten für die Organisation Help – Hilfe zur Selbsthilfe in Kyjiw. Können Sie uns die aktuelle Situation vor Ort beschreiben?

In Kyjiw gab es von Anfang Mai bis in den Juni keine einzige Nacht, die wirklich ruhig war. Jeden Tag gab es Luftalarm und Raketenbeschuss, zum Glück ohne viele Opfer unter den Zivilisten. Das liegt vor allem an den starken Luftabwehrsystemen, die es inzwischen hier gibt. Die Raketenabwehr ist allerdings sehr laut. Wenn man nicht vom Luftalarm aufwacht, dann von den Explosionen, die beim Abschießen der Raketen entstehen.

Was uns hier im Moment sehr beschäftigt, ist das Atomkraftwerk in Saporischschja. Wir fürchten, dass es dort aufgrund der Kriegshandlungen zu einer Explosion kommen wird. Deshalb bereiten wir uns auf so einen Extremfall vor, auch auf die radioaktive Verseuchung, die auf eine Explosion folgen würde. Für mich fühlt sich die Situation in etwa wie im Februar 2022 an, als zwar alle diesen Krieg erwartet haben, aber niemand so richtig daran glauben wollte. Ich hoffe sehr, dass sich die Befürchtungen diesmal nicht bestätigen.

Anfang Juni brach der Kachowka-Staudamm. Wie macht sich die Zerstörung des Damms bemerkbar?

Durch den Dammbruch in Kachowka gibt es im Moment eine neue Welle von Binnenflüchtlingen, die innerhalb der Ukraine versuchen, an anderen Orten unterzukommen. Ein Teil der Ukraine ist aktuell überflutet. In einem anderen Teil, in der Nähe von Saporischschja, haben die Menschen keinen Zugang zu Wasser. Das ist natürlich eine Katastrophe und wir von Help versuchen, die Folgen dieser Katastrophe zu bewältigen und die Zivilbevölkerung vor Ort zu versorgen.

Wie sieht denn ihr Arbeitsalltag im Moment aus?

Ich war im letzten Monat viel unterwegs, zum Beispiel wegen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms. Wir sind in die betroffene Region gereist und haben uns die Stadt Cherson angesehen, die überflutet wurde. Uns hat sich ein schlimmes Bild geboten: Dort wurden Menschen mit Booten aus dem Wasser gerettet und dann an den Evakuierungsstellen am Ufer durch Artillerie und Raketenwerfer beschossen. Auch mein Team und ich sind unter Artilleriebeschuss geraten.

Grundsätzlich sind wir viel unterwegs, denn ich finde es wichtig, dass wir die Hilfsprojekte immer so umsetzen, dass sie den Betroffenen vor Ort auch wirklich helfen. Deswegen haben wir inzwischen Büros in Kyjiw und in Uschhorod, in der Westukraine. Außerdem planen wir ein weiteres Büro in Charkiw aufzumachen.

Wie geht es den jungen Menschen in Kyjiw?

Die Stadt ist voller junger Menschen. Eine Kollegin, die aus Deutschland zu Besuch hierherkam, war davon sehr überrascht. Es gibt sogar Raves, die tagsüber, also noch vor der Ausgangssperre, stattfinden. Wir haben hier viele Cafés, Restaurants und Orte, an denen die Jugendlichen sich treffen. Auch ich gehe oft und gerne abends aus. Natürlich immer vor der Ausgangssperre. Die wurde jetzt sogar um eine Stunde verlängert und wir dürfen inzwischen bis zwölf Uhr nachts unterwegs sein. Ich würde sagen, dass Ukrainer gute Verdrängungskünstler sind. Wir machen uns zwar Sorgen und haben Angst, aber auf der anderen Seite leben wir weiter.

Was mich beim Thema Jugendliche besonders beschäftigt, ist die Tatsache, dass viele Schulen immer noch keine Luftschutzkeller haben. Es gibt nun eine Vorschrift der ukrainischen Regierung, dass jede Bildungseinrichtung einen Schutzbunker haben muss. Da das in vielen Schulen nicht der Fall ist, findet der Unterricht vor allem online statt. Die jungen Leute hatten schon unter Corona zu leiden und müssen nun wieder online unterrichtet werden. Das wird für diese Generation in Zukunft ein großes Problem darstellen

Der Slogan von Help ist „Hilfe zur Selbsthilfe“ – was ist damit konkret gemeint?

Wir sind eine humanitäre Organisation mit Development-Ansatz. Das heißt, dass wir den Menschen dabei helfen wollen, langfristig ohne Hilfe auszukommen. Ich habe selbst erlebt, was humanitäre Hilfe anrichten kann, wenn sie nicht rechtzeitig aufhört, als ich 2017 im Donbass für andere Hilfsorganisationen unterwegs war. Wenn man die Bevölkerung einfach nur versorgt, werden Abhängigkeiten geschaffen und es entstehen große wirtschaftliche Probleme für die betroffenen Regionen.

Das bedeutet für uns, dass wir in akuten Notsituationen zwar die notwendige humanitäre Hilfe leisten, dabei aber darauf achten, dass sie schnell wieder endet und mit den Wiederaufbauprogrammen gestartet wird. Entscheidend für uns ist auch, mit vielen lokalen Partnern zu arbeiten, also mit ukrainischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Auch hier sorgen wir dafür, dass die Organisationen langfristig ohne unsere Unterstützung arbeiten können.

Schon im vergangenen Jahr haben wir mit Wiederaufbauprojekten begonnen: Da geht es um den Wiederaufbau von sozialen Einrichtungen, von Krankenhäusern und um den Bau von Wohnhäusern. Außerdem gibt es zum Beispiel ein Hilfsprogramm für Menschen, die ein kleines Unternehmen oder Café aufmachen möchten. Oft verbinden wir solche Angebote dann wiederum mit Business-Coaching-Angeboten. So wollen wir dafür sorgen, dass die Menschen irgendwann nicht mehr auf die Unterstützung angewiesen sind.

Sie haben gerade erwähnt, dass der Wiederaufbau in der Ukraine schon läuft. Der Krieg ist aber noch nicht vorbei. Wie funktioniert Wiederaufbau in Zeiten des Krieges?

Es ist wichtig, dass der Wiederaufbau möglichst schnell anfängt und dezentral organisiert wird. Das bedeutet, dass die ukrainischen Kommunen und die zivilgesellschaftlichen Organisationen die Bedarfe und Prioritäten vor Ort einschätzen sollten.

Außerdem muss man sich klar machen, dass zwar viele Menschen geflüchtet, aber viele auch geblieben sind. Sogar in den sehr stark betroffenen Gebieten – wie in Charkiw – leben immer noch mehr als die Hälfte der Menschen, die vor dem Krieg dort gelebt haben. Und natürlich möchten diese Menschen in einer funktionierenden Infrastruktur leben und sie möchten durch Straßen ohne zerstörte Häuser gehen.

Ein beeindruckendes Beispiel ist die Stadt Butscha, die wir alle aus den Medien kennen, weil sie Schauplatz von brutalen Kriegsverbrechen war. Im Mai 2022 war ich dort und habe die Zerstörung gesehen. Vor ein paar Monaten war ich noch einmal dort und man merkt der Stadt kaum noch an, was dort passiert ist. Die Menschen haben fast alles wieder aufgebaut.

In welchen Bereichen ist der Wiederaufbau denn derzeit am dringendsten? Geht es vor allem und Wasser- und Energieversorgung?

Es geht auch um Wasserversorgung, ja. Das große Problem mit dem Kachowka-Stausee ist aber, dass es kein Wasserreservoir mehr gibt, aus dem man Wasser entnehmen kann. Erst wenn man den Staudamm wieder aufgebaut und sich der See gefüllt hat, kann man von einer langfristigen Lösung für die Wasserversorgung der Region sprechen. Das wird also nicht so schnell gehen können.

Aber ich möchte betonen, dass Wiederaufbau nicht nur in Form von Bauvorhaben stattfindet. Es geht beispielsweise auch um psychosoziale Unterstützung für die Bevölkerung, etwa für die Familien der Soldaten und Soldatinnen. Es sind mehr als fünf Millionen Männer und Frauen an der Front. Wenn sie zurückkommen, brauchen auch sie Unterstützung.

Psychosoziale Unterstützung ist wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das ist eine wichtige Komponente unserer Arbeit. Und die Nachfrage ist groß: Alle unsere Psychologinnen und Psychologen sind komplett ausgebucht.

Auch der Bundestag hat sich kürzlich mit dem Thema „Wiederaufbau der Ukraine“ beschäftigt. Welche Unterstützung wünschen Sie sich von der Bundesrepublik?

Ich weiß, dass es viel Kritik an der Bundesregierung gibt. Aber ich selbst habe den Eindruck, dass eine starke Verbindung zwischen Deutschland und der Ukraine entstanden ist. Ich bin mit 15 Jahren nach Deutschland gekommen und kaum jemand kannte die Ukraine damals. Die Unterstützung der Bundesregierung ist in der jetzigen Situation spürbar und ich weiß, wie viele Gelder für humanitäre Hilfe zur Verfügung gestellt wurden.

Ich würde mir allerdings wünschen, dass Bundestagsabgeordnete nicht nur Kyjiw besuchen. Mir ist klar, dass es hier um das Thema Sicherheit geht, aber ich finde es wichtig, auch die anderen Teile der Ukraine zu besuchen. Deshalb fand ich es gut, dass Außenministerin Annalena Baerbock nach Charkiw gefahren ist. Die Ukraine ist ein großes Land und jede Region ist auf eigene Art und Weise betroffen. Davon muss man sich ein vollständiges Bild machen.

Zur Person

Darya Romanenko

Darya Romanenko wurde in der Ukraine geboren und zog im Alter von 15 Jahren nach Kehl, Deutschland. Nachdem sie Geschichte, Slawistik und interkulturelles Management studiert hat, kehrte sie in die Ukraine zurück und war im Bereich Entwicklungszusammenarbeit tätig. Als der Krieg gegen die Ukraine im vergangenen Jahr eskalierte, war sie als Leiterin eines zivilgesellschaftlichen Zentrums in der Region Donezk tätig und musste selbst vor den Angriffen fliehen. Seitdem koordiniert sie deutsche Auslandshilfeprojekte in der Ukraine und in Rumänien. Seit Februar 2023 leitet sie als Landesdirektorin das Länderbüro in der Ukraine von Help – Hilfe zur Selbsthilfe.

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