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Nahostkonflikt „Wir brauchen eine Diskurskultur, in der wir uns gegenseitig zuhören“

Jasmin Nimmrich

Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann sprechen als jüdisch-palästinensisches Duo mit Schülerinnen und Schülern über den Nahostkonflikt. Die beiden nennen dies Trialog, also einen gleichberechtigten Austausch zwischen drei Gruppen. Das Ziel: Dass die starken Emotionen, die die Geschehnisse in Gaza und Israel hervorrufen, in Konstruktivität statt Feindseligkeit münden. Wie sie das genau angehen, erzählt uns Shai Hoffmann im Interview.

Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann blicken freundlich in die Kamera.

Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann geben gemeinsam Workshops an Schulen zum Nahostkonflikt. © Transaidency e. V. / privat

Durch die Trialoge, die Jouanna und du anbieten, wollt ihr Feindbilder entkräften und die Empathie untereinander stärken. Wie seid ihr darauf gekommen, damit an Schulen anzufangen?

Begonnen hat alles mit einem viralen Video, das uns in den Sozialen Netzwerken aufgefallen ist. In diesem Video geraten ein Lehrer und ein Schüler, der eine Palästinaflagge in den Händen hält, aneinander, was schließlich in einer Handgreiflichkeit resultiert. Wir waren von Anfang an davon überzeugt, dass das, was auf diesem Video zu sehen ist, falscher nicht sein könnte. Dass Emotionen in Gewalt überschlagen, ist immer falsch, doch besonders verheerend an einer Schule. Für Jouanna und mich, also eine Deutsch-Palästinenserin und einen deutschen Juden, war dann irgendwie klar, dass wir vor Ort etwas machen und diese Emotionen in etwas Konstruktives wandeln müssen. Wir gehen dafür nicht primär an Schulen, um Fakten zu vermitteln, die natürlich auch sehr wichtig sind, sondern um am Lernort Schule einen Raum zu schaffen, in dem Jugendliche ihre Gefühle und Gedanken mit uns und untereinander teilen können.

Und wie läuft ein Trialog dann genau ab?

Unsere Trialoge dauern in der Regel anderthalb bis zwei Stunden. Wir beginnen immer mit einer Erläuterung über unsere Hintergründe und unser Verhältnis zum Nahostkonflikt. Wir erklären dann, was wir mit unserem Trialog, also der Begegnung auf Augenhöhe, bezwecken wollen. Dann schaffen wir einen sicheren Raum, mittels des Konzeptes eines Braver Space, in dem wir ohne Diskriminierung mutig Themen diskutieren, die uns allen irgendwie schwerfallen zu diskutieren. Zuerst teilen Jouanna und ich dann unsere Emotionen, wie wir uns am 7. Oktober, dem Tag des terroristischen Überfalls der Hamas, gefühlt haben. Dies ebnet dann den Weg zu den Fragen, die wir den Schülerinnen und Schülern stellen: Woran denkst du, wenn du die Wörter Israel und Palästina hörst? Hast du eine persönliche Verbindung zu beiden Ländern? Warst du schon mal vor Ort? Wie informierst du dich über die aktuellen Geschehnisse? Im Anschluss spielen wir dann ein Emotions-Memory. Dieses besteht aus Karten, auf denen Gefühle stehen, also sowas wie Trauer, Verzweiflung, Überforderung, aber auch Optimismus, Hoffnung und Dankbarkeit. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich die Karten, die wir auf dem Boden verteilen, dann genau ansehen, überlegen und nachspüren, wie sie sich am 7. Oktober, aber auch heute, während die Kriegsbilder auf uns einprasseln, fühlen.

Wenn wir über Kriegsbilder sprechen, die im Netz kursieren, dann kommt man an Desinformationen und Fakes nur schwer vorbei. Inwieweit geht ihr in euren Trialogen auf Desinformationen ein?

Wir wollen auch dafür sensibilisieren, dass der Krieg, der vor Ort herrscht, es schon längst in unsere Sozialen Medien geschafft hat und hier weitergeführt wird. Auf diesen Meinungs- und Desinformationskrieg, der in den Sozialen Netzwerken herrscht, gehen wir ein und fragen die Schülerinnen und Schüler unter anderem danach, wo sie selbst Informationen zum Konflikt sammeln. Dies zeigt immer wieder, dass ein riesiger Bedarf an Aufklärung über Desinformationen besteht. Die Emotionen, die uns die Schülerinnen und Schüler spiegeln, knüpfen natürlich auch an das an, was sie in den Sozialen Netzwerken sehen. Hier versuchen wir dann aufzuklären und zu vermitteln, auf was geachtet werden sollte, wenn wir uns im Internet bewegen und unautorisierte Inhalte konsumieren.

Ein Krieg, wie ihr ihn in den Trialogen aufbereitet und erklärt, verursacht starke Emotionen. Wie geht ihr mit diesen um und gebt diesen einen Raum?

Tränen während eines Trialogs sind auf keinen Fall die Ausnahme. Wie reagieren wir darauf? Mit Empathie. Wir kommunizieren gegenüber allen Teilnehmenden, dass in dem Raum, den wir schaffen, Platz für alle Empfindungen und Gedanken ist . Wir respektieren diese und versuchen dann zu moderieren. Wer einfach nur reden möchte, mit dem reden wir, wer Taschentücher braucht und in den Arm genommen werden möchte, dem helfen wir genau damit.

Begrifflichkeiten

Trialog bezeichnet ein Gespräch und den Meinungsaustausch von drei Gruppen.

Braver Spaces sind Räume, in denen eine kritische Auseinandersetzung mit Themen möglich ist, die schwer zu besprechen sind. Braver Spaces sind eine Erweiterung von Safer Spaces.

Safer Spaces sind Räume, in denen Betroffene von Diskriminierung sicherer sein sollen. „Sicherer“, weil es keine 100-prozentige Sicherheit gibt.

Als Nahostkonflikt bezeichnet man den politischen und militärischen Konflikt zwischen Israel und den arabischen Staaten, insbesondere zwischen Israel und den Palästinensischen Gebieten.

Macht dich die Arbeit mit jungen Menschen manchmal selber sprachlos?

Mich hauen die Fragen und Gedanken der Jugendlichen, aber auch der Mut, diese zu teilen, wirklich immer mal wieder um. Das Miteinander der Schülerinnen und Schüler erlebe ich zum größten Teil als sehr respektvoll und dankbar für die Möglichkeit, sich in einem moderierten Rahmen auszutauschen. Die jungen Menschen, mit denen ich arbeiten darf, sind viel reflektierter und zum Diskurs bereit, als ihnen oft von Erwachsenen zugetraut wird.

Kommt es in diesem Diskurs aber auch mal zu Konflikten?

Natürlich behandeln wir in unserer Arbeit Themen, die total aufgeheizt sind und wo die Fronten durchaus mal aneinander geraten können. In den meisten Fällen gelingt es uns aber, den Trialog herzustellen oder halt wiederherzustellen. Jede Stimme und jede Meinung soll in dieser Diskursform auch gehört werden. In welcher Form das geschieht, liegt an uns zu moderieren. Wir intervenieren sobald wir unsere Trialog-Grundregeln gefährdet sehen, also sobald jemand durch andere unterbrochen wird, man sich ins Wort fällt oder sich diskriminierend ausdrückt. Wir brauchen für Gespräche über diesen Krieg, wie für alle anderen Konflikte auch, eine Diskurskultur, in der wir uns gegenseitig zuhören, die Meinung der anderen schätzen und vor allem denjenigen verstärkt zuhören, die direkt betroffen sind. Gleichzeitig darf aber natürlich auch jede Person, die keinen direkten Bezug hat, ihre Gefühle und Meinungen äußern. Es kommt auf eine Balance an, und darauf, dass wir unsere Aufmerksamkeit fair und demokratisch verteilen und niemand zum Stummsein gezwungen wird.

Die Geschichte des Staates Israels ist stark verwoben mit der deutschen. Welche Rolle spielen diese historischen Zusammenhänge in euren Workshops?

Uns ist sehr bewusst, dass alles, was über Israel und Palästina hier in Deutschland gesagt und entschieden wird, auch aus einer historischen Verantwortung heraus passiert. Die ganze Situation ist heikel und Stellungnahmen sind auf keinen Fall unkompliziert. Was aber an den deutschen Schulen auch zu beobachten ist: Das Schuldempfinden und der Bezug zum Holocaust sind heute andere, als bei den vorangegangen Generationen. Was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland passiert ist, davon erfahren die jungen Menschen vielleicht noch durch die Großeltern, oder halt nur durch den Geschichtsunterricht, es fehlt also ein persönlicher Bezug. Gleichzeitig ist Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft mit Migrantinnen und Migranten sowie Menschen mit Fluchterfahrungen. Zum Teil sind jüngere Konflikte also deutlich präsenter als der Holocaust. Wir müssen auf jeden Fall versuchen zu vermitteln, dass der Holocaust das absolut schlimmste Verbrechen aller Zeiten war. Gleichzeitig würden wir uns aber auch wünschen, dass die Erinnerungskultur an diese neuen Lebensrealitäten angepasst wird. Die verschiedenen Schmerzen, die verschiedenen Traumata, die zusammenkommen in der jungen Generation, die müssen gesellschaftlich stattfinden. Dies muss jedoch gelingen, ohne dass verglichen wird und Leid gegeneinander aufgewogen wird. All diese schlimmen Menschheitsverbrechen müssen nebeneinander stehen bleiben. Grausamkeit sollte nie in einem Ranking gelistet werden.

Eure Arbeit ist so wichtig, wie sie schmerzhaft scheint. Wie passt du gerade selbst auf dich auf?

Ich beuge zum einen vor, indem ich es vermeide, Soziale Medien zu konsumieren. Meinen Stresspegel müsste ich mehr unter Kontrolle haben, als ich es gerade tue. Auch Achtsamkeit ist ein Lerneffekt. Unsere Arbeit in den letzten Wochen war so nervenaufreibend und emotional belastend, dass es für die kommenden Termine wirklich wichtig ist, dass ich weiterhin die Kraft bewahre, emotional präsent zu sein und aufmerksam zuzuhören.

Zur Person

Shai Hoffmann

Shai Hoffmann ist Sozialunternehmer und Geschäftsführer des gemeinnützigen Unternehmens Gesellschaft im Wandel. Gemeinsam mit Jouanna Hassoun, der Geschäftsführerin des Bildungsvereins Transaidency, gibt er Workshops an Schulen zum Nahostkonflikt. Die beiden nennen dies Trialog, also eine ebenbürtige Begegnung von drei Gruppen. Hassoun lebt seit ihrer Kindheit als Tochter palästinensischer Geflüchteter in Berlin. Shai Hoffmanns Eltern kommen aus Israel, er lebt in Berlin.

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