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Erfahrungsbericht „Staat und Bürger sind zwei Sachen“

Daniel Heinz

Organe zum Abendessen und 20 Stunden Zug fahren. Die 23-jährige Charlotte hat ein Jahr lang in der chinesischen 10-Millionen-Stadt Hangzhou gelebt. Im Gespräch mit Daniel erzählt sie, wie sie das Land erlebt hat.

Zwei fröhliche junge Frauen

Charlotte (l.) im Sommer 2019 mit Sophia beim Sprachkurs an der Peking Universität. ©privat

Charlotte, warum hast du dich für ein Jahr in China entschieden?

Ich habe mich für China entschieden, weil ich Sinologie – also Chinawissenschaften – an der Freien Universität Berlin (FU Berlin) studiere. Das Land hat mich seit meiner Kindheit schon fasziniert. Seit ich den Disney-Film Mulan gesehen habe, war ich verzaubert: diese schönen Reisfeldlandschaften, diese riesigen Millionen-Städte, aber auch die kleinen Fischerdörfer. China hat Berge, Flüsse, Wüsten und Strände. Ich wollte dieses Land entdecken und es zieht mich immer wieder dorthin.

Welches Bild hattest du vor deiner Reise von China?

Bevor ich das erste Mal dort war, habe ich mir eine ganz schlimme Diktatur vorgestellt, wo jeder einen beobachtet, mir meine Bücher über China weggenommen werden, ich vielleicht sogar dafür ins Gefängnis komme und die Bevölkerung einem Leid tut und sich fast zu Tode arbeitet. Natürlich ist das alles bisschen extrem ausgedrückt, aber in diese Richtung ging meine Vorstellung.

Hat sich Deine Vorstellung nach deinem Aufenthalt verändert?

Auf eine gewisse Art schon. Vom autoritären Staat bekommt der normale Student oder Reisende eigentlich gar nicht so viel mit, man wird nicht verfolgt oder durchsucht. Aber es gibt auch andere Seiten: Zum Beispiel die Region Xinjiang, in der aktuell ein Völkermord am Volk der Uiguren und anderen muslimischen Minderheiten stattfindet.

Ich finde es wichtig, dass Menschen in Deutschland verstehen, dass der Staat und die Bürger zwei sehr unterschiedliche Sachen sind. Der Staat ergreift zum Teil auch brutale Maßnahmen, um seine Ziele durchzusetzen. Aber aus meiner Sicht ist das chinesische Volk sehr friedlich, nett und hilfsbereit. Ich habe mich in keinem Land so sicher gefühlt wie dort – und ich bin schon viel rumgekommen.

Wie würdest Du Deine Zeit dort beschreiben?

Mein Austauschjahr in China war toll, anstrengend, bewegend, strapazierend und witzig. Es war so vieles und ich würde es auf jeden Fall wieder machen. Ich bin viel gereist, habe viel über das Land gelesen, mich in Parks zu den Menschen gesetzt, viel neues Essen ausprobiert, viel fotografiert und bin ganz lange Zugstrecken über 20 Stunden gefahren. Es war großartig. In China sind die Menschen sehr offen, reden mit dir und laden dich ein.

Ich würde aber sagen, dass es schwieriger ist, richtige Freunde zu finden. Das liegt vielleicht daran, dass wir als Ausländer nicht in das System dort passen und die jüngere Generation viel scheuer und zurückhaltender ist als die Ältere.

Hast du auch einmal erlebt, wie die deutsche und die chinesische Kultur aufeinandergeprallt sind?

Viele meiner Erinnerungen haben mit Essen zu tun, denn Essen hat in der chinesischen Gesellschaft einen sehr wichtigen Platz. Als ich durch die Provinz Xinjiang gereist bin, wurde ich bei einer Familie zum Essen eingeladen. Die Familie kochte für mich ein ganzes Schaf und es stand ein riesiger Topf mit Organen vor mir und ein anderer riesiger Teller mit etwas, das ich als eine Art Polenta identifiziert hatte.

Die ganze Familie starrte mich erwartungsvoll an. Ich griff erstmal zu dem Teller mit der Polenta, tunkte es in Soja Sauce und verstand dann, dass es sich um reines Fett handelte. Mein zweiter Griff war in die Schale mit den Organen. Die Oma, die das Essen für mich gekocht hatte, gab mir dann den Fuß des Schweins und sagte, er sei das Beste. Nun saß ich da, mit dem Schweinefuß im Mund, knabberte und hörte den Geschichten am Esstisch zu.

Welchen Eindruck haben die Chinesen von Deutschland?

Chinesen sehen Deutschland als ein sehr modernes und großartiges Land. Ich finde das witzig, denn im Vergleich zu China wirkt unsere Infrastruktur für mich nicht sehr modern; und auch im Bereich Digitalisierung gibt es noch viel zu tun. Doch viele Chinesen sehen Deutschland als hoch effizientes Land, mit dem besten Maschinenbau nach den USA. Und die meisten kennen auch ein paar deutsche Fußballmannschaften und Automarken.

Was möchtest Du allen mit auf dem Weg geben, die mal nach China wollen?

Wenn ihr in China seid, lasst euch auf die Kultur ein! Es gibt einige Sachen, die man nicht machen sollte, zum Beispiel jemanden anschreien. Man braucht Geduld und ihr solltet auf keinen Fall etwas machen, womit euer gegenüber sein „Gesicht verlieren“ könnte. Ich würde euch auch raten, allein reisen zu gehen. Alleine den langsamsten Zug nehmen, um richtig ein Gespür für China zu bekommen. Die Menschen kommen viel schneller auf einen zu, wenn man alleine ist, schenken einem Essen, erzählen von sich. Es ist auch nicht schlimm, wenn man nicht die Sprache kann, lustig und spannend wird es auf jeden Fall. Und Chinesisch lernen dauert gefühlt ein Leben lang.

Zur Person

Portraitbild von mitmischen-Autor Daniel Heinz
Mitmischen-Autor

Daniel Heinz

... (25) arbeitet in der queeren und rassismuskritischen Bildungsarbeit, unter anderem für die Bildungsstätte Anne Frank. Ansonsten ist Daniel dafür bekannt, das beste Pfannkuchen-Rezept in Berlin zu haben.

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