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Experten-Interview „Für viele geht es nicht allein ums Geld“

Emilia Ferrarese

Sie bekommen ihre Aufträge übers Internet: die sogenannten Gig- und Crowd-Worker. Der Ökonom Ayad Al-Ani über Spaß an der Arbeit, Ausbeutung und seine Vision für die Nische im Arbeitsmarkt.

Experte Ayad Al-Ani im Porträt

„Mit der Corona-Pandemie ist die sogenannte Passion Economy entstanden“, erklärt Experte Ayad Al-Ani. Foto: Norman Posselt

Was sind Gig- beziehungsweise Crowd-Worker?

Bei beiden spielen Online-Plattformen eine große Rolle. Das heißt: Über eine Online-Plattform richtet jemand eine Ausschreibung oder einen direkten Auftrag an einen Crowd- oder Gig-Worker, in der es darum geht, ein Arbeitspaket abzuarbeiten.

Der Crowd-Worker setzt dies dann im Internet um, zum Beispiel erstellt er ein Kommunikationskonzept für eine Bank. Ein Gig-Worker erledigt das Arbeitspaket offline, zum Beispiel liefert er Essen nach einer Bestellung aus. Die Grenzen zwischen diesen beiden Formen verschwimmen jedoch, da am Ende ja auch das Kommunikationskonzept umgesetzt wird.

Wie ist die Plattformarbeit entstanden?

Diese Entwicklung begann in den 1990er Jahren, als sich IT-Entwickler und Programmierer außerhalb ihrer Arbeitszeit in Peer-to-Peer-Networks zusammenschlossen, um Software-Programme und Betriebssysteme zu entwickeln, die sie umsonst zur Verfügung stellten. Das war eine freiwillige, selbstorganisierte und unbezahlte Arbeit, aus der die sogenannte Open-Source-Bewegung entstand.

Anfang des neuen Jahrtausends kamen dann die ersten findigen Unternehmer darauf, dass man die Crowd organisieren könnte, um Geld zu verdienen. So entstanden die kommerziellen Plattformen, die wir heute kennen. Hier verlangen nun die Crowd- oder Gig-Worker Geld für ihre Leistung. Dadurch wurden ihre Freiheiten entsprechend geringer, da die Auftraggeber konkrete Vorstellungen davon haben, wie das Arbeitsergebnis aussehen soll und wann sie es bekommen möchten.

Wie viele Gig- und Crowd-Worker gibt es derzeit in Deutschland?

Die Schätzungen reichen von einer knappen halben Million bis hin zu 1,8 Millionen. Es ist aber sehr schwer, Zahlen festzulegen, weil viele zusätzlich einen anderen Job haben und diese Arbeit in der Freizeit betreiben.

Was unterscheidet Gig- und Crowd-Worker von anderen Arbeitnehmern?

Sie sind sehr viel selbstbestimmter und identifizieren sich stark mit ihrer Aufgabe. Viele üben die Tätigkeit nicht wegen des Geldes allein aus, sondern auch, um zusätzliche Fähigkeiten und Know-how zu erlernen. Man erwirbt sogenannte credentials, die man dann auch im ‚normalen‘ Berufsleben anwenden kann.

Vielen Leuten macht die Plattformarbeit auch einfach Spaß. Selbst wenn man mit seinem Konzept kein Geld verdient, kriegt man dennoch durchaus Wertschätzung und Feedback von den anderen Gig- und Crowd-Workern. Das ist etwas, was man erstaunlicherweise im normalen Arbeitsleben oft nicht so vorfindet und somit etwas, das für die Leute sehr wertvoll ist.

Der Nachteil im Vergleich zu einem regulären Arbeitsverhältnis ist, dass die Worker nicht sozialversichert sind. Es hat schon mehrere Versuche von Gig- und Crowd-Workern oder Gewerkschaften gegeben, diese Tätigkeiten als geregeltes Arbeitnehmerverhältnis zu definieren. Die sind aber in den meisten Fällen gescheitert.

Plattformen versuchen mehr und mehr, sich wie Unternehmen zu verhalten, indem sie Mitarbeiterentwicklung, Trainings oder eine Art Versicherung einführen. Man könnte andersrum aber auch sagen, dass traditionelle Unternehmen versuchen, plattformartiger zu werden. Man kann vermuten, dass das Corona-bedingte Homeoffice dies beschleunigen wird: Mitarbeiter werden zur internen Crowd, die über Firmenplattformen gesteuert werden.

Die Linksfraktion möchte die neue Nische im Arbeitsmarkt stärker regeln, indem Gig-Worker gewisse Rechte oder auch den Mindestlohn bekommen sollen. Ist das überhaupt gut für die Betroffenen oder verlieren sie dadurch womöglich auch Freiheiten?

Wo Gig- oder Crowd-Worker ausgebeutet werden, könnte so eine Regelung vielleicht helfen. Allerdings versuchen Plattformen hier in Deutschland eher, qualitativ hochwertige Arbeit zu leisten. Sie versuchen, gute Talente anzuziehen und entsprechend wettbewerbsfähige Löhne zu zahlen. So besteht in Deutschland weniger die Gefahr extremer Billiglöhne.

Sollte zu stark reguliert werden, könnte es passieren, dass Plattformen ins Ausland gehen. Man muss also Sorge haben, dass man damit den Standort Deutschland für Plattformen gefährdet.

Kann der Gesetzgeber auf diese schnellen Entwicklungen der digitalen Ökonomie überhaupt angemessen reagieren und ist es nicht klar, dass er da ständig hinterherhinkt?

Gesetzgebung hinkt immer hinterher, weil man ja immer erst eine Beobachtung machen muss, auf die man dann reagiert und versucht, das Ganze zu regulieren.

Aber man könnte gegenüber der Politik durchaus auch den Anspruch haben, dass sie eine Vision entwickelt, wie eine Gesellschaft, die von Plattformen dominiert ist, aussieht, und sich dann auch der Frage zuwendet: Wie regulieren wir solche Plattformen? Sind sie vielleicht auch als Genossenschaften denkbar? Kann ich sie demokratisch gestalten?

Rechnen Sie mit einem Corona-bedingten Zulauf zur Gig- und Crowd-Work, wie es nach der Finanzkrise einen Boom dieser Arbeitsform gab?

Mit der Corona-Pandemie ist die sogenannte Passion Economy (Ökonomie der Leidenschaft) entstanden. Die zugehörigen Plattformen geben zum Beispiel Künstlern, Trainern und Coaches die Möglichkeit, sich selbst darzustellen und Kunden für ihre Leistungen oder Produkte zu bekommen. Dafür verlangt die Plattform dann einen gewissen Anteil.

Auch das Wachstum von Handelsplattformen und Lieferdiensten sind eine Auswirkung der Corona-Krise. Die Frage ist natürlich, ob diese Entwicklung nach der Pandemie zurückgeht, was ich aber nicht vermute. Wenn sich das im Netz etabliert hat, spricht einiges dafür, dass es auch im Netz bleiben wird.

Über Ayad Al-Ani

Prof. Dr. Dr. Ayad Al-Ani forscht zu Transformationen in Gesellschaft, Wirtschaft und Bildung. Er hatte schon Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen, etwa in Basel, Hagen, Berlin, Potsdam und Wien und ist unter anderen Mitglied des Einstein Center Digital Future.

Zur Person

mitmischen-Autorin Emilia Ferrarese
Mitmischen-Autorin

Emilia Ferrarese

...ist 16 Jahre alt und besucht die 11.Klasse eines Gymnasiums in Darmstadt, wo sie Politik und Wirtschaft sowie Französisch als Leistungskurse belegt. Sie ist ABBA-Fan, liebt es zu Singen und schreibt sehr gern Listen.

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