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Blog Tag 4 Unverständnis als Chance?

Marejke Tammen

Die diesjährige Jugendbegegnung widmete sich der Weitergabe von Erinnerungen an die nationalsozialistische Verfolgung in Familie und Gesellschaft. Die Teilnehmenden blickten dafür sowohl in die Vergangenheit, als auch in die Gegenwart und Zukunft. Am Ende der viertägigen Veranstaltung stellt sich eine Frage: Was bedeutet es Mensch zu sein?

#WeRemeber – Gemeinsam mit Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, der Holocaust-Überlebenden Eva Szepesi, deren Tochter Anita Schwarz sowie Marcel Reif, Sohn eines Holocaust-Überlebenden, setzen die Jugendlichen nach der Podiumsdiskussion ein Zeichen gegen Antisemitismus. © DBT | Stella von Saldern

Punkt 10 Uhr. Das Plenum erhebt sich. Es ist mucksmäuschenstill, nur das Klicken der Fotografen auf der Pressetribüne ist zu hören. Dann betreten die Ehrengäste den Plenarsaal: Eva Szepesi und Marcel Reif. Alle Blicken liegen auf der Holocaust-Überlebenden und dem Sohn eines von den Nazis verfolgten Juden.

Eine Gruppe in schwarz gekleideter, älterer Menschen läuft in den Plenarsaal des Deutschen Bundestages ein.

Alles erhebt sich: Die beiden Gedenkredner Eva Szepesi und Marcel Reif werden von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in den Plenarsaal geführt. © DBT | Janine Schmitz

„Wir erinnern an jeden einzelnen Menschen, der von den Nationalsozialisten ausgegrenzt, entrechtet, beraubt, verfolgt, gedemütigt, gequält und ermordet wurde“, eröffnet Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus. Neben den beiden Gedenkrednern Szepesi und Reif begrüßt sie auch die Jugendlichen: „Ich darf außerdem über 60 Jugendliche im Plenarsaal begrüßen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer Jugendbegegnung.“ Die Kameras schwenken ins hintere Drittel des Plenums. Hinter der Grünen-Fraktion sitzen die Jugendlichen; zurecht gemacht, teils in Anzug und Kleid.

Eine Gruppe Jugendlicher, die in Anzug und Kleidern im Plenarsaal des Bundestages sitzt.

Sichtlich bewegt verfolgen die Jugendlichen im Plenarsaal die Gedenkstunde. © DBT | Stella von Saldern

Reden, reden, reden

Dann tritt Eva Szepesi ans Rednerpult: „Ich bin sehr glücklich, dass meine lieben Töchter, Enkel und Urenkel hier anwesend sind. Euch gibt es, weil ich vor 79 Jahren am 27. Januar 1945 von der Roten Armee als Zwölfjährige in Auschwitz-Birkenau befreit wurde“, sagt sie und blickt dabei hoch zu ihrer Familie auf der Besuchertribüne. Sie berichtet von der Zeit im Konzentrationslager und sagt, dass sie lange Zeit nicht über die dort erlebten Geschehnisse sprechen konnte. „Glauben Sie mir, es fällt mir nicht leicht mit 91 Jahren hier zu stehen. Aber wenn ich nur ein paar Menschen mit meinen Worten erreiche, hat es sich schon gelohnt.“

„Sei ein Mensch!“

Den 18-Jährigen Kevin aus Ungarn hat sie mit ihren eindrücklichen Worten erreicht: „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals in den Deutschen Bundestag hineinkommen und die Rede von Eva Szepesi live miterleben könnte. Das war für mich ein Riesenerlebnis“, berichtet er später. Šárka sieht es ähnlich: „Ich bin dankbar, dass wir das hören konnten. Ich weiß, dass das für die Leute schwer ist, darüber zu reden“, sagt sie und ergänzt: „Ich bin dankbar, dass ich aus Tschechien als nicht Muttersprachlerin dabei sein konnte.“ Elisabeth hat vor allem die Rede von Marcel Reif gefallen: „Da sind mir dann auch ein bisschen die Tränen gekommen. Das war sehr ergreifend“, sagt sie.

Ein ältere Mann mit kurzen weißen Haaren und dunkler Brille am Rednerpult des Deutschen Bundestages.

Auch der Vater von Marcel Reif hat über das Erlebte geschwiegen – und sein Sohn hat nicht nachgefragt: „Ich hatte keine Großeltern, und ich wusste, warum. Ein Onkel, eine Tante, eine Cousine waren geblieben, alle anderen: ermordet.“ © DBT | Janine Schmitz

Und damit ist sie nicht allein. Als Marcel Reif in seiner Gedenkrede berichtete, was ihm sein Vater als Holocaust-Überlebender mit auf dem Weg gegeben hat, wischt sich auch Außenministerin Annalena Baerbock auf der Regierungsbank die Tränen weg. „Und ich erinnere mich täglich mehr daran, wie oft er mir diesen Satz geschenkt hat – mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder auch als Tadel. Drei Worte nur in dem warmen Jiddisch, das ich so vermisse: ,Sej a Mensch!‘ – ,Sei ein Mensch!‘“

Was genau er selbst darunter verstand, Mensch zu sein, will Karla dann bei der anschließenden Podiumsdiskussion von Marcel Reif wissen. Eine schwere Frage. Er sucht nach den richtigen Worten und antwortet schließlich: „Sie haben recht. Menschsein klingt wirklich gut und hat auch Kraft.“ Es gebe aber nicht die eine große Tat, denn „Menschsein ist das tägliche Leben; ist jede kleine Begegnung, jedes kleine Gespräch, ist jedes kleine drauf achten“. 

Blick auf einen Sitzungsraum. An den langen Tuschen sitzen junge Menschen, sie unterhalten sich mit den fünf älteren Herrschaften and er kurzen Seite des Raumes.

Bei der Podiumsdiskussion diskutieren die Jugendlichen mit Bundestagspräsidentin Bas, Eva Szepesi, Marcel Reif und Anita Schwarz, wie Antisemitismus bekämpft werden kann. © DBT | Stella von Saldern

Eine Woche voller Highlights

Im Anschluss an die Podiumsdiskussion möchte ich von den Jugendlichen noch wissen, was ihr Highlight der vergangenen vier Tage war. Für Dorothea ganz klar: Der Austausch. „Einfach sich mit anderen auszutauschen über gleiche Erfahrungen, über gleiche Problematiken, die man einfach erlebt im Alltag, wenn man sich engagiert in Gedenkstätten.“ Doch auch das Zeitzeugengespräch fand Dorothea sehr wichtig. „Einfach, weil das immer mehr ausstirbt.“

Dieser Meinung schließen sich viele der Jugendliche an. „Es war sehr bewegend mit Frau Szepesi zu sprechen. Es war sehr eindrucksvoll, sich vorzustellen, was sie erlebt hat“, sagt Quinn. „Die Gedenkstunde und die Podiumsdiskussion haben mir mal wieder mehr gezeigt, wie wichtig es ist, aufzustehen und Leuten zu zeigen, was passiert ist.“

Und was war mein Highlight? Mich hat vor allem die Gedenkstätte „Stille Helden“ beeindruckt. Zu erfahren, wie Menschen das eigene Leben riskieren, um das eines anderen zu retten, bewegt mich sehr. Ich denke, darin liegt auch die Antwort auf die Frage, was Menschsein bedeutet: es ist das Zuhören. Das Mitfühlen. Das Beenden von Diskriminierung.

Und dennoch muss ich zugeben: genauso schwer, wie es Marcel Reif fällt, den Begriff Menschsein in nur wenigen Worten zu beschreiben, genauso schwer fällt es mir eine Antwort auf meine Frage zu finden, warum wir noch immer so etwas Unmenschliches wie am 7. Oktober erleben müssen. In den vergangenen Tagen kam mir immer mal wieder der Gedanke, dass in diesem Unverständnis vielleicht auch eine Chance liegt. Solange ich – aber auch viele, viele andere – nach Erklärungen suchen, beleben wir Diskussionen um Antisemitismus. Wir sorgen dafür, dass der Holocaust nicht verschwiegen wird. Wir sorgen dafür, dass über das Unmenschliche geredet wird. We remember.