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Gedenkstätte „Stille Helden“ „Viele junge Menschen wollen verstehen, was damals passiert ist und warum“

Naomi Webster-Grundl

Sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden während des Zweiten Weltkriegs ermordet. Die Gedenkstätte „Stille Helden“ sammelt und zeigt die Geschichten von denen, die untertauchen konnten, und von Menschen, die ihnen dabei geholfen haben. Ein Gespräch mit der Leiterin Dr. Karoline Georg.

Eine Frau steht in einer Ausstellung und blickt in die Kamera.

Dr. Karoline Georg leitet die Gedenkstätte „Stille Helden“ und das Museum „Blindenwerkstatt Otto Weidt“. © Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Frau Dr. Georg, Sie leiten die Gedenkstätte „Stille Helden“ und das Museum „Blindenwerkstatt Otto Weidt“ – wie sieht Ihr beruflicher Alltag aus?

Sehr abwechslungsreich. Thematisch sind beide Häuser, die zur Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand gehören, nah bei einander. In beiden geht es um Menschen, die verfolgten Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus geholfen und sich so selbst in Gefahr gebracht haben.

Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt auf der Vermittlung unserer Inhalte. So ist ein Kernpunkt unserer Arbeit die Entwicklung von Angeboten für die historisch-politische Bildung und die Betreuung von Gruppen, die zu uns kommen. Neben der Bildungsarbeit dokumentieren wir Fälle von Hilfe und erforschen diese auch weiterhin. Es erreichen uns auch Anfragen, sowohl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als auch von Privatpersonen, die zu ihrer Familie forschen. Außerdem machen wir Veranstaltungen und veröffentlichen Bücher zum Thema.

Was wird in der Gedenkstätte „Stille Helden“ gezeigt?

Die Dauerausstellung trägt den Untertitel „Widerstand gegen die Judenverfolgung in Europa 1933-1945“. In unserer Ausstellung zeigen wir Jüdinnen und Juden, die sich der Verfolgung entzogen haben, und ebenso die Menschen, die ihnen dabei geholfen haben. Dabei ist uns die doppelte Perspektive auf die Verfolgten und die Helfenden sehr wichtig. Diejenigen, die untergetaucht sind, haben eine mutige Entscheidung getroffen, ebenso wie diejenigen, die sich zur Hilfe entschlossen haben. Viele Menschen kennen die Geschichte von Anne Frank. Im gesamten von Deutschland besetzten Europa und in den kollaborierenden Ländern gab es Jüdinnen und Juden, die sich versteckt haben. Die Fülle dieser Geschichten zeigen wir in der Ausstellung.

Was ist Ihre Lieblingshelden-Geschichte, die in der Gedenkstätte thematisiert wird?

Eine Lieblingsgeschichte habe ich nicht. Es gibt aber natürlich immer wieder Fälle, die einen besonders berühren oder beeindrucken. So zum Beispiel die Geschichte der jüdischen Familie Mandil, bestehend aus Mutter, Vater und zwei Kindern, die aus dem serbischen Novi Sad über den Kosovo nach Albanien geflohen ist. Dort lernt der Vater, Moshe Mandil, den jungen Refik Veseli kennen. Dessen Familie lebt im Bergdorf Kruja und er entscheidet sich dazu, die Familie Mandil bei sich aufzunehmen und zu verstecken. Familie Veseli ist eine muslimische Familie, deren Gastfreundschaft und deren Mut der Familie Mandil das Leben gerettet haben.

Bei vielen Geschichten berührt mich die einfache Menschlichkeit, die ausreichte, um sich – oft auch spontan – zur Hilfe für verfolgte Jüdinnen und Juden zu entscheiden. Erschreckend ist aber auch, dass diese Menschen nur eine verschwindend geringe Minderheit gewesen sind.

Gedenkstätten wie „Stille Helden“ kämpfen gegen das Vergessen an – haben Sie das Gefühl, diese Aufgabe ist schwieriger geworden?

Diese Aufgabe war noch nie leicht. Wichtig ist zum einen die Vermittlung von grundlegendem Wissen. Aber viel wichtiger finde ich den darauffolgenden Schritt: Die gesellschaftlichen und historischen Zusammenhänge zu erkennen, die den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen möglich gemacht haben. Grundsätzlich kann ich aber sagen, dass es ein großes Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus gibt. Viele junge Menschen wollen verstehen, was damals passiert ist und warum.

Was sich für uns ganz konkret ändert, ist, dass es nur noch wenige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gibt. Diese Authentizität ist nicht zu ersetzen. Im Dezember 2023 ist Franz Michalski verstorben. Er hat als Kind versteckt überlebt und viele Jahre lang mit seiner Frau Petra Zeitzeugengespräche geführt. Wir hatten regelmäßig Schulklassen zu Besuch, für die wir Gespräche mit dem Ehepaar Michalski organisiert haben. Diesen direkten Austausch mit Überlebenden kann man nicht ersetzen, auch nicht mit Filmen oder künstlicher Intelligenz. Franz Michalski wird uns sehr fehlen.

Inwiefern muss sich die Erinnerungskultur verändern, um zeitgemäß zu bleiben und weiterhin Leute zu erreichen?

Die Erinnerungskultur verändert sich ja stetig und mit ihr auch die Bildungsarbeit zum Thema Nationalsozialismus. Das ist auch gut so. Früher war man überzeugt, dass man die Schrecken der nationalsozialistischen Verbrechen zeigen muss, um junge Menschen zu erreichen. Nicht wenige haben es erlebt, dass im Schulunterricht grausame Bilder, beispielsweise von Leichenbergen, gezeigt wurden. Doch so gewinnt man junge Menschen kaum dafür, sich mit der Geschichte zu beschäftigen.

Heutzutage hat sich unter anderem die Arbeit mit Biografien durchgesetzt. Die Zahl von sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden ist so unvorstellbar, dass es vielmehr bringt, sich mit den Biografien einzelner Menschen zu beschäftigen. Wer waren sie? Wie wuchsen sie auf? Wie wirkte sich die Verfolgung auf ihr Leben aus? Das sind ganz konkrete Aspekte eines Lebens, so können die Teilnehmenden leichter Empathie und Interesse entwickeln.

Hinzu kommt natürlich, dass sich Gedenkstätten und Museen auch auf technische Neuerungen einstellen müssen, die ja auch viele Möglichkeiten für die Bildungsarbeit bieten. Digitale Angebote können eine gute Ergänzung sein. Ich plädiere aber sehr dafür, hier nichts zu erfinden und bei den Fakten zu bleiben.

Aus meiner Erfahrung möchte ich auch noch ergänzen, dass eine partizipative Erinnerungskultur große Vorteile bietet. Das Einbeziehen unterschiedlicher Perspektiven kann hier nur ein Gewinn sein. Wir bieten unter anderem ein Seminarformat mit dem Titel „Erinnern und Gedenken“ an, in dem sich Jugendliche überlegen sollen, wie Denkmäler gestaltet sein können und selbst Entwürfe erarbeiten. Ich bin jedes Mal beeindruckt von ihren Ideen.

Wenn man nur eine Sache gedanklich aus der Ausstellung mitnehmen würde, was sollte das sein?

Wir zeigen, dass es auch unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur Handlungsspielräume gegeben hat. Hilfe war vielfältig. Die Frau, die der jüdischen Zwangsarbeiterin Brot zusteckte. Die Menschen in Berlin, die in der Dahlemer Gemeinde ihre Kennkarte in den Opferstock steckten, damit diese – mit einem neuen Foto versehen – an Untergetauchte weitergegeben werden konnten. Der deutsche Soldat, der das jüdische Mädchen gehen ließ, obwohl er sehr wahrscheinlich ahnte, dass sie Jüdin war. All diese Menschen haben bewiesen, dass der Satz, der nach dem Ende des Krieges so oft gefallen ist, „Man konnte ja nichts tun“, nicht stimmt. Das zeigen die vielfältigen Beispiele aus unserer Ausstellung.

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