Ostbeauftragte der Bundesregierung
„Von einem starken Osten profitiert das ganze Land“
Jasmin Nimmrich
Am 2. Dezember 1990 fand die erste gesamtdeutsche Wahl nach der Wiedervereinigung statt. Wie sich 35 Jahre später die frühere Teilung noch auf die Gesellschaft auswirkt und warum die Perspektive der Nachwendegeneration so wichtig ist, erklärt die Ostbeauftragte der Bundesregierung im Interview.
Über die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland muss man auch 35 Jahre nach der Wiedervereinigung reden, findet die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Elisabeth Kaiser. © picture alliance/dpa | Michael Reichel
Ich bin 1987 in Thüringen geboren und der Region treu geblieben. Tatsächlich habe ich mich im Laufe meines Lebens immer stärker als Ostdeutsche gefühlt. Vor allem, als ich immer mehr auch mit Westdeutschen Kontakt hatte, und dann gemerkt habe, inwiefern sich unsere Erfahrungen unterscheiden. Zum Beispiel, wer wieviel erbt oder auch, wie viel ein studentischer Ferienjob im Westen einbringt im Vergleich zu meinem Studentenjob in Erfurt. Auch die Sprache unterscheidet sich natürlich. Ich sage Kaufhalle, nicht Supermarkt – und Roster statt Bratwurst. Was ich gemerkt habe, ist vor allem auch der Unterschied, was die Zeit nach 1990 betrifft. Die Jahre nach der Wiedervereinigung haben große Umbrüche für die Ostdeutschen bedeutet. Das Leben wandelte sich komplett: gesellschaftlich, politisch, aber auch wirtschaftlich. Viele Firmen machten dicht, ein Großteil der Menschen verlor die Jobs. DDR-Berufsabschlüsse wurden nicht anerkannt. Ehemalige Ingenieure mussten als Hausmeister arbeiten. Viele Menschen zogen weg. Diese Erinnerungen werden bis heute in den Familien weitergegeben. Das heißt aber nicht, dass es keine Gemeinsamkeiten gibt. Im Gegenteil: In meiner Jugend im wiedervereinten Deutschland hatte ich vieles mit westdeutschen Jugendlichen gemein – wir haben zum Beispiel die gleiche Popkultur geteilt, dieselben Shows im Fernsehen geguckt und ähnliche Musik gehört.
Elisabeth Kaiser (SPD) sitzt seit 2017 im Deutschen Bundestag, gewählt über die Landesliste ihrer Partei in Thüringen. Seit 2025 hat sie das Amt der Ostbeauftragten der Bundesregierung inne.
Grundsätzlich gilt, dass uns viel mehr verbindet, als uns voneinander trennt. Doch bei jeglicher Datenerhebung fällt unweigerlich auf, dass sich bei Zahlen zur Abwanderung, dem demografischen Wandel, der Höhe von Einkommen oder den Rentenbezügen weiterhin die alte innerdeutsche Grenze durch Deutschland zieht. Zu meiner Aufgabe als Ostbeauftragte gehört es, diese strukturellen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland konkret anzusprechen. Auch hier im Parlament höre ich immer noch regelmäßig, dass nach mehr als dreißig Jahren der Osten der Republik sich doch inzwischen an den Westen angepasst haben müsste. Oder dass schon genug über den Sonderstatus Ostdeutschlands gesprochen worden und vor allen Dingen genug Geld geflossen wäre. Dabei wird aber gerne vergessen, dass die Ostdeutschen ja selbst ganz viel in den Wiederaufbau ihres Landes investiert haben. Auch haben die Ostdeutschen mit ihrer Arbeitskraft intensiv die Wirtschaft in Westdeutschland unterstützt. Jetzt als Ostbeauftragte muss ich deshalb erklären, warum das Ziel für den Osten nicht sein kann, eine Kopie des Westens zu sein, sondern dass regionale Unterschiede ihre Berechtigung haben und unser Land bereichern. Inzwischen bestehen die größeren Unterschiede nicht mehr zwischen Ost und West, sondern vor allem zwischen Stadt und Land. Unser Ziel ist es, gleichwertige Lebensverhältnisse für alle in Deutschland herzustellen, egal ob in Ost oder West. Deshalb ist mein Amt immer noch wichtig, auch wenn ich hoffe, dass es irgendwann nicht mehr notwendig ist.
Am 20. Dezember 1990 konstituierte sich der erste gesamtdeutsche Bundestag im Bonner Wasserwerk. Erstmals seit 57 Jahren waren Ost- und Westdeutsche wieder in einem gemeinsamen demokratisch gewählten Parlament vertreten und die parlamentarische Einheit Deutschlands war besiegelt. Rita Süssmuth (CDU) wurde durch die 662 Abgeordneten der sechs Fraktionen zur Bundestagspräsidentin gewählt. Helmut Kohl (CDU) wurde am selben Tag zum ersten gesamtdeutschen Bundeskanzler gewählt.
Als Gesellschaft prägen uns die Zeit der Teilung und die Umbrüche nach der Wiedervereinigung bis heute. Deshalb ist die Erinnerungskultur so wichtig. Dabei wurde schon viel geleistet, zum Beispiel durch die Erinnerungsarbeit in den Gedenkstätten. Jetzt geht es darum, besonders bei jüngeren ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie es zur deutschen Teilung kam und was es bedeutet, in einem Land zu leben, wo bestimmte Grundrechte nicht gegeben sind: Wo man nicht frei wählen darf, wo es keine Reisefreiheit gibt, die Meinungsfreiheit nicht gilt und die Medien zentral gesteuert werden. Das lässt uns die Errungenschaften der Demokratie stärker schätzen und motiviert hoffentlich, sich genau dafür einzusetzen. Wir sollten aber auch an die Dinge erinnern, die Ostdeutschland in ein vereintes Deutschland eingebracht hat, ohne die DDR zu verklären. Zum Beispiel die flächendeckende Kinderbetreuung oder auch die starke Rolle der Frau in Beruf und Gesellschaft. Auch im Gesundheitssystem ist das Prinzip der Polikliniken, die heute Medizinische Versorgungszentren heißen, ein Erfolgsmodell.
Mir war es sehr wichtig, dass mal eine Generation zu Wort kommt, die eine andere Perspektive auf die gegenwärtigen Gegebenheiten hat als die Zeitzeugen der Wiedervereinigung. Diese jüngere Generation wird dieses Land maßgeblich gestalten. In Bezug auf Ostdeutschland reden wir sehr oft über die Vergangenheit und die bisherige Entwicklung. Ich wünsche mir, dass wir stärker nach vorne schauen. Daher war das Ziel des aktuellen Berichts, auch stärker diese Perspektive in den Mittelpunkt zu stellen. Es geht in den Texten der Gastautoren deshalb vor allem darum, was sie für Deutschland erwarten und woran wir gemeinsam arbeiten müssen, um eine gute Zukunft zu gestalten. Der vorliegende Bericht zeigt auch, wie viel Potential und Engagement im Osten der Republik steckt.
Mir ist es ein großes Anliegen, die Wirtschaftskraft in Ostdeutschland weiter zu stärken. Denn eine stärkere Wirtschaft bedeutet gute Jobs mit guten Löhnen. Das erreichen wir durch Ansiedlungen von internationalen Unternehmen, aber auch weiteren Forschungseinrichtungen oder Bundesbehörden in Ostdeutschland. Damit geht einher, dass mehr junge Menschen motiviert sind, in Ostdeutschland zu bleiben oder gar dorthin zurückzukehren. Auch möchte ich denjenigen unter die Arme greifen, die vor Ort anpacken, das Potential der Region sehen und ein offenes Land mit einer demokratischen Gesellschaft gestalten. Dieses zivilgesellschaftliche Engagement soll die Sichtbarkeit und Förderung bekommen, die es verdient. Außerdem möchte ich den Anteil von Ostdeutschen in Führungspositionen in verschiedenen Gesellschaftsbereichen stärken. Denn mit mehr Vielfalt gibt es bessere Entscheidungen und mehr Akzeptanz für die staatlichen Institutionen. Mir ist es wichtig, die Zukunftschancen in Ostdeutschland, gerade in ländlichen oder sogenannten strukturschwachen Regionen, auszubauen. Von einem starken Osten profitiert das ganze Land.