Zum Inhalt springen

Alternative Stadtführung Milchtrinker vom Bahnhof Zoo

Zwölf Wochen hat er auf der Straße gelebt. Heute zeigt Dieter bei Stadtführungen die Orte, die für ihn als Obdachlosen wichtig waren. Lukas war dabei und hat viel gelernt, über Wäschetrockner und Parkbänke.

Älterer Mann reckt Faust in die Luft

Im Berliner Westen stehen viele beeindruckende Gebäude. In einer der teuersten Gegenden der Hauptstadt hat Dieter auf der Straße gelebt. © Michael Kuchinke-Hofer

Werbeprospekt

In Suppenküchen oder bei Tafeln bekommen Wohnungs- und Obdachlose warme Mahlzeiten. © Michael Kuchinke-Hofer

Trockner

Wenn die Sonne darauf scheint, können Obdachlose an diesen schwarzen Rohren ihre Wäsche trocknen. © Michael Kuchinke-Hofer

Menschen vor Gartenlaube

Was es da zu sehen gibt? Eine "Luxus-Parkbank" - windgeschützt und sicher vor Angriffen. © Michael Kuchinke-Hofer

Älterer Mann reckt Faust in die Luft

Dieter hat ziemlich schnell die Kurve gekriegt, nach nur drei Monaten Obdachlosigkeit hatte er wieder ein Dach über dem Kopf. © Michael Kuchinke-Hofer

Zopf und Nemo

Berlin, Bahnhof Zoo: Temperatur um die null Grad, in die Luft mischt sich der Geruch von Abgasen und Currywurst. Pünktlich um zehn vor zehn erscheint Dieter Bichler am vereinbarten Treffpunkt. Er trägt ein dunkelgrünes Hemd, darüber – offen – eine Kunstlederjacke. Die Haare hat er zu einem dünnen Zopf zusammengebunden, die Augen versteckt er hinter einer verspiegelten Sonnenbrille, die er unter keinen Umständen abnimmt. Sein Handy klingelt – der Song "Nemo" der finnischen Metal-Band Nightwish ertönt.

Um zehn Uhr kommen die Schüler: 20 Siebtklässler von der Gail S. Halvorsen Schule in Berlin, Steglitz-Zehlendorf. "Wer von euch hat schon mal mit einem Obdachlosen geredet?", fragt Dieter, der es nicht mag, gesiezt zu werden, in die Runde. Zögerlich gehen ein paar Hände nach oben.

Bester öffentlicher Wäschetrockner

Dieter war im Herbst und Winter 2012 drei Monate lang obdachlos. Neun Wochen davon lebte er in Berlin auf der Straße – zwischen dem Bahnhof Zoo und dem Savignyplatz in Charlottenburg, einer der teuersten Mietgegenden der Stadt.

Heute ist Dieter 50 Jahre jung (auf das "jung" besteht er) und arbeitet als Stadtführer. 140 Führungen hat er 2018 für den Berliner Verein querstadtein e.V. durchgeführt, davon ungefähr 80 für Schülergruppen. "Obdachlos auf schicken Straßen", heißt die seine Tour, auf der er den Teilnehmern die zentralen Anlaufpunkte seines früheren Lebens zeigt.

Vor dem Konzertsaal der Universität der Künste bleibt Dieter stehen. "Dat schwarze Ding hier", sagt er, "dat is' Kunst" und deutet auf eine moderne Skulptur aus schwarzen Plastikröhren. Er nennt sie "den wohl teuersten und besten öffentlichen Wäschetrockner von ganz Berlin". Wenn die Sonne darauf scheint, heizt sie sich auf. Früher, erzählt Dieter, sei er oft hier her gekommen, um seine nasse Wäsche auf die aufgeheizten Röhren zum Trocknen zu legen.

Von Arnstadt zum Bahnhof Zoo

Dieters Geschichte beginnt in Arnstadt in Thüringen. In der DDR studierte er Geografie – sein Studium wurde allerdings später, nach der Wiedervereinigung, nicht anerkannt. Eine Zeit lang arbeitete er als Mosaikpflasterer, dann erlitt er den dritten Bandscheibenvorfall. Danach war er Zeitungsausträger und als dann der Euro kam, so sagt er, sei es bergab gegangen.

Im September 2012 muss Dieter seine Wohnung verlassen – die genauen Hintergründe möchte er nicht öffentlich machen. Kurz darauf landet er in Berlin am Bahnhof Zoo und schließt sich einer Gruppe von anderen Obdachlosen an. Er trifft Boris, der zwei Flaschen Schnaps am Tag trinkt, Igor, der zum Klauen für die ganze Gruppe in den Supermarkt im Bahnhof geht, und Lena, die mit 21 Jahren stirbt – an den Folgen der Droge Crystal Meth.

Wohnung und Kreditkarte

Dieter macht sich einen Namen in der Gruppe: Der Milchtrinker vom Bahnhof Zoo. Er rührt keinen Alkohol an, trinkt stattdessen Milch. Am 14. Dezember 2012 schafft er es runter von der Straße. Er zieht in ein betreutes Wohnen in Berlin, zwölf Monate später sogar in eine eigene Wohnung weit im Osten der Stadt. 2014 beginnt er damit, seine Stadtführungen anzubieten, im September 2016 bekommt er ein Vertragshandy, im Dezember dann eine Kreditkarte – alles Dinge, die für obdachlose Menschen in weiter Ferne liegen, wie er erzählt.

Immer mehr Wohnungslose

Wie viele Menschen in Deutschland obdach- oder wohnungslos sind, lässt sich nur schätzen. Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind nicht dasselbe. Wohnungslose Menschen, also solche, die keinen Mietvertrag und keine feste Adresse haben, leben häufig auf Sofas bei Freunden und Verwandten. Obdachlose Menschen hingegen leben gänzlich ohne Dach über dem Kopf im öffentlichen Raum – unter Brücken, in Schlafsäcken, an Bahnhöfen, auf Parkbänken. 2016 waren 52.000 Menschen in Deutschland obdachlos, so gibt es die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (BAG W) an.

Wer braucht Asphalt in einem Park?

Am Steinplatz, schräg gegenüber der Universität der Künste, bleibt Dieter mit seiner Gruppe wieder stehen. Früher sei hier alles mal grün gewesen, erzählt er, und wartet ab, bis die Schüler sich umgesehen haben. Mittlerweile wurde der Boden mit Betonplatten ausgelegt und die Sitzflächen der Parkbänke, die man neu aufgestellt hat, sind heute auf eine Weise nach Innen gewölbt, dass man auf ihnen nicht liegen und erst recht nicht schlafen kann. "Wer braucht Asphalt in einem Park?", fragt Dieter in die Gruppe, ohne darauf eine Antwort zu erwarten. Für ihn ist die bauliche Umgestaltung des Steinplatzes "ein Beispiel dafür, wie man Obdachlose aus der Stadt vertreiben will".

Luxus in der Nacht

Obdachlose Menschen sind auf der Straße häufig Anfeindungen oder auch Gewalt ausgesetzt – auch davon erzählt Dieter. Am Savignyplatz, dem Endpunkt der Führung, zeigt er auf eine Parkbank. Er nennt sie "den Luxusplatz des Schlafens für Obdachlose". Warum? Das hat mehrere Gründe: erstens steht die Bank unter einem Laubengerüst, über das man eine Plane spannen kann, wenn es regnet. Zweitens ist die Bank von drei Seiten durch das Gerüst geschützt, man könne also nur von einer Seite aus angegriffen werden. Und drittens ist sie am Boden festgeschraubt – manche Menschen, so berichtet Dieter, fänden es nämlich witzig, Bänke umzuwerfen, auf denen Obdachlose schlafen.

Ein-Mann-Projekt

Dieter ist überzeugt: "Wenn man das Geld locker machen würde, könnte man es schaffen, dass in zehn Jahren niemand mehr auf der Straße leben muss." Er selbst hat ein "Ein-Mann-Projekt" – so nennt er das – ins Leben gerufen: Er möchte Jugendliche von der Straße holen. Bei zehn jungen Menschen hätte es schon geklappt, sagt er. Sieben von ihnen hätten eine Ausbildung angefangen, eine würde sogar studieren. Er nennt sie: "meine zehn Kinder".

Lukas Stern

Du hast auch Lust, bei uns mitzumischen?

Schreib für uns!

Mehr zum Thema