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Arbeitsmarkt-Experte „Mindestlohn ist ein Notinstrument“

Den geplanten 12-Euro-Mindestlohn findet Gewerkschafter Florian Moritz richtig. Wer davon profitiert, warum die Inflation ein Problem ist und was Arbeitnehmervertreter für junge Leute tun, erklärt er im Interview.

Porträt von Florian Moritz

„Alle größeren Errungenschaften der Arbeitnehmer sind irgendwann von Gewerkschaften erkämpft worden“, sagt Florian Moritz vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Zusammen könne man einfach mehr erreichen. © Florian Moritz

Der gesetzliche Mindestlohn soll ab Oktober auf 12 Euro pro Stunde steigen. Eine gute Idee?

Das ist eine sehr gute Idee! Wir Gewerkschaften fordern schon lange einen höheren Mindestlohn. Er muss auf ein anständiges Niveau steigen. Und anständig heißt, dass wir die Armut bei Menschen, die trotz Arbeit arm sind, zurückdrängen können, sodass sie von ihrer Arbeit einigermaßen abgesichert leben können.

Welche Arbeitnehmer werden besonders profitieren?

Insgesamt werden 6,2 Millionen Beschäftigte vom höheren Mindestlohn profitieren. Im Durchschnitt wird jemand, der Vollzeit arbeitet und den Mindestlohn bekommt, ab Oktober 400 Euro brutto mehr im Monat haben als heute.

Frauen machen den größten Anteil derer aus, die vom Mindestlohn profitieren werden. 57 Prozent aller Mindestlohnbezieher sind Frauen. Außerdem profitieren viele Beschäftigte in Ostdeutschland.

Warum betrifft der Mindestlohn denn ganz besonders Frauen und Menschen in Ostdeutschland?

Wir haben nach wie vor strukturelle Ungerechtigkeiten in Deutschland. Zum einen gibt es den sogenannten Gender-Pay-Gap, also die Tatsache, dass Frauen weniger als Männer verdienen. Diese Unterschiede sind auch teilweise darauf zurückzuführen, dass in bestimmten Branchen besonders viele Frauen beschäftigt sind. Der höhere Mindestlohn wird vor allem Auswirkungen auf Branchen wie den Einzelhandel haben oder auf das Gastgewerbe. Dort und im Sozialwesen sind besonders viele Frauen beschäftigt.

Zum anderen gibt es ein Lohngefälle Richtung Osten. Obwohl die Wende über 30 Jahre zurückliegt, verdienen die Menschen in Ost- und Westdeutschland immer noch nicht auf dem gleichen Niveau – insbesondere dort, wo keine Tarifverträge gelten. In Ostdeutschland haben wir außerdem einen ausgeprägten Niedriglohnsektor, der größer ist als in den westdeutschen Ländern.

Steigen die Löhne, muss das Geld dafür irgendwo herkommen. Eine Sorge ist, dass Produkte und Dienstleistungen teurer werden oder die Gewinne der Firmen schrumpfen könnten. Wo beides nicht geht, könnte es Entlassungen geben. Was erwarten Sie?

Es gibt immer wieder Debatten darüber, ob der Mindestlohn dazu führen kann, dass weniger Menschen beschäftigt werden oder sogar ihren Job verlieren. Da hilft ein Blick zurück: Als der Mindestlohns 2015 eingeführt wurde, haben manche Ökonomen und Arbeitgebervertreter Schreckgespenster an die Wand gemalt. Da hieß es, dass es zu einem Verlust von bis zu 900.000 Arbeitsplätzen kommen könnte. Aber das Gegenteil ist eingetreten. 2015 hatten wir in Deutschland einen regelrechten Job-Boom, für den wir im Ausland sogar beneidet wurden. Es gab auch keine Jobverluste, sondern mehr Arbeitsplätze.

Zwei aktuelle Studien sehen positive Szenarien für die Anhebung auf 12 Euro. Es sind keine negativen Effekte auf die Beschäftigung zu erwarten, stattdessen eine Stärkung des Wirtschaftswachstums. Die Effekte auf die Preise werden sehr gering sein.

Wie kann man sich das erklären?

Das liegt unter anderem daran, dass die Lohnsumme im Bereich Mindestlohn – also wenn man hier alle Löhne zusammen nimmt – doch insgesamt eine relativ kleine Wirkung auf die Gesamtwirtschaft hat, auch wenn es für den Einzelnen viel Geld ist. Insofern werden die Preise dadurch nicht beeinflusst.

Das ein oder andere Unternehmen wird vielleicht etwas geringere Gewinne erzielen, aber das ist aus unserer Sicht gerechtfertigt und wird die Unternehmen keineswegs in den Ruin treiben. Wir lesen gerade jetzt in der Zeitung, dass die Dax-Unternehmen Rekordgewinne erzielen, obwohl wir durch die Pandemie und den Ukraine-Krieg in einer Krisensituation stecken. Vor diesem Hintergrund sollte die geplante Erhöhung verkraftbar sein.

Wie wird der Mindestlohn überhaupt festgelegt? Wie kommt man auf genau 12 Euro?

Ziel ist, dass man von seiner Arbeit leben können sollte, wenn man in Vollzeit arbeiten geht. Es sollte auch so sein, dass man später mit der Rente, die ja vom Einkommen abhängt, zurechtkommt und nicht im Alter zum Amt gehen muss. Und es gilt zu verhindern, dass Löhne immer weiter abgesenkt werden. All diese Faktoren sollten in die Bestimmung des Mindestlohns einfließen.

Der Mindestlohn wird in einer politischen Höhe festgelegt und dann regelmäßig angepasst. Die Anpassung findet in der Mindestlohnkommission statt. Hier sitzen Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und Wissenschaftler. Sie beziehen zum Beispiel die Entwicklung der Tariflöhne, aber auch die gesamtwirtschaftliche Lage mit ein.

Im Bundestag wurde auch die Sorge formuliert, dass die Lohnerhöhung nicht bei den Leuten ankommt, da auch die Steuermehrbelastung steigt. Dies wird auch „Kalte Progression“ genannt? Können Sie uns erklären, was das ist?

In Deutschland zahlen Beschäftigte die sogenannte Einkommenssteuer. Wie viel Steuer man bezahlt, hängt von der Höhe des Lohns und des Steuersatzes ab. Je höher das Einkommen, desto höher ist in der Regel der Steuersatz.

Nun stelle man sich vor, dass die Preise für Lebensmittel und viele andere Dinge steigen, was aktuell ja auch passiert. Das nennt man Inflation.

Steigt jetzt der Lohn, dann stehen auf dem Lohnzettel also beispielsweise 1500 Euro statt 1000 Euro und man rutscht in einen höheren Steuersatz und muss mehr Steuern bezahlen. Die Inflation hat zwischenzeitlich aber dafür gesorgt, dass 1500 Euro nur noch einer Kaufkraft von 1250 Euro entsprechen. Am Ende hätte man in dieser Situation gar nicht so viel von der Lohnerhöhung. Das nennt man „Kalte Progression“.

Aber das Problem löst man nicht über die Höhe des Mindestlohns, sondern eher über ein gerechteres Steuersystem. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat dazu einen konkreten Vorschlag gemacht.

In vielen Branchen regeln Vertreter der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber die Löhne durch Tarifverträge. Läuft das gut?

Das läuft sehr gut und es ist das beste Modell, um faire Löhne und anständige Arbeitsbedingungen zu erzielen. Der Mindestlohn dient als unterste Haltelinie, er schafft aber kein wirklich gutes Einkommen. Einen fairen Lohn gibt es nur dann, wenn die Beschäftigten sich in Gewerkschaften zusammentun und mit der anderen Seite Tarifverträge aushandeln.

Leider entwickelt sich die Situation so, dass für immer weniger Beschäftigte ein Tarifvertrag gilt. In Deutschland profitieren nur noch ungefähr die Hälfte der Beschäftigten von Tarifverträgen. Das ist eine Entwicklung, die wir mit Sorge sehen und die wir umkehren wollen.

Der Mindestlohn ist gut, aber es wäre besser, wenn wir ihn gar nicht bräuchten und stattdessen alle Löhne tariflich geregelt wären. In Tarifverträgen werden schließlich auch andere Rahmenbedingungen der Arbeit – wie Urlaub und der Umgang mit Überstunden – festgelegt.

Seit es Gewerkschaften gibt, setzen sie sich für Interessen der Arbeitnehmer ein – wie zum Beispiel höhere Löhne. Welche Aufgaben übernehmen Gewerkschaften noch?

Ein wichtiges Element unserer Arbeit ist die betriebliche Mitbestimmung. In jedem Betrieb kann es einen Betriebsrat geben, der die Interessen der Beschäftigten vertritt. Und die Gewerkschaften unterstützen diese Betriebsräte – ebenso wie die Jugend- und Auszubildendenvertretungen.

Ansonsten kann man als Mitglied einer Gewerkschaft verschiedene Beratungsangebote wahrnehmen, rechtliche Beratung zum Beispiel.

Wenn in Tarifverhandlungen gestreikt wird, zahlen die Gewerkschaften Streikgeld aus, sodass man nicht auf sein Einkommen verzichten muss, während man für höhere Löhne kämpft.

Darüber hinaus versuchen wir als Dachverband der Gewerkschaften, die Belange der Beschäftigten in die Politik einzubringen, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen und Dinge wie den Mindestlohn durchzusetzen.

Zusammenfassend kann man sagen: Gewerkschaften sind Organisationen mit einer sehr langen und erfolgreichen Geschichte. Alle größeren Errungenschaften der Arbeitnehmer sind irgendwann von Gewerkschaften erkämpft worden – wie beispielsweise das arbeitsfreie Wochenende oder eben der Mindestlohn.

Der Leitgedanke von Gewerkschaften ist Solidarität: Wenn sich Leute zusammentun, können sie gemeinsam mehr erreichen. Und so ist das auch bei den Beschäftigten eines Unternehmens oder einer bestimmten Branche. Allein richten sie wenig aus und können beispielsweise nur schwer für höhere Löhne gegenüber ihren Chefs eintreten. Gemeinsam können sie sich eher durchsetzen.

Zur Person

Florian Moritz ist 1977 in Göttingen geboren. Er hat Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften studiert und eine journalistische Ausbildung an der Kölner Journalistenschule absolviert. Seit Anfang 2018 leitet er die Abteilung Wirtschafts-, Finanz-, und Steuerpolitik in der Bundesvorstandsverwaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Dazu gehört auch der Bereich „Tarifpolitische Koordinierung und Mindestlohn“.

(Mira Knauf)

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