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Blog Tag 5 Das elfte Gebot

Das schreckliche Schicksal der Juden in Auschwitz wird nicht nur bei der offiziellen Gedenkfeier lebendig. Bis in die Hotelzimmer der Besucher lässt es sich zurückverfolgen.

Das Gelände des Konzentrationslagers Auschwitz bei Nacht

Die Nacht legt sich über Birkenau. © DBT/Stella von Saldern

„Du sollst nicht gleichgültig sein.“ Mit dieser Botschaft richtet sich Marian Turski während der großen Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz an die rund 2.000 Anwesenden. Er nennt es „Das elfte Gebot". Turski spricht mit wacher und bestimmter Stimme.

Er war 18 Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging und er auf den Todesmarsch von Auschwitz ins Lager Buchenwald geschickt wurde – auf einen von den Nazis befohlenen Marsch, der dazu bestimmt war, die Häftlinge derart in die Erschöpfung zu treiben, dass sie unterwegs zu Tode kommen. Marian hat überlebt, heute ist er 93 Jahre alt.

Halb künstlich, halb brutal-real

Über das berühmte Eingangstor von Auschwitz-Birkenau, jenes Tor, durch das die Zug-Transporte hindurch nach vorne an die Rampe fuhren, wurde ein riesiges Zelt gespannt. Drinnen sieht das Tor wie eine Theaterkulisse aus: Es ist rot angestrahlt und im Wachturm leuchtet ein grell-gelbes Licht. Durch den Torbogen kann man hinausschauen – hinaus in die Weite des Lagers, über das sich im Laufe der Veranstaltung allmählich die Nacht legt.

In diesem halb künstlichen, halb brutal-realen Setting findet der offizielle Erinnerungsakt statt – in Anwesenheit von mehr als 200 Überlebenden. Staatsvertreter, Regierungschefs, sogar Königsfamilien aus der ganzen Welt sind da. Und auch wir sind eingeladen, 60 junge Erwachsene, die auf Initiative des Bundestages vor Ort sind.

Junge Zuhörer bei der Gedenkfeier in Auschwitz.

Fast wie eine Theaterkulisse: Das Tor nach Auschwitz-Birkenau. © DBT/Stella von Saldern

„Wie meine Oma"

Die Rede von Batsheva Dagan, einer in Polen geborenen Auschwitz-Überlebenden, habe sie besonders berührt, erzählt mir Julia (19) später. Die Abiturientin stammt ebenfalls aus Polen: aus Lublin, im Osten des Landes. Hier arbeitet sie immer wieder freiwillig für die Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers Lublin-Majdanek.

„Batshevas Temperament erinnerte mich an meine Oma", sagt Julia, die nicht wie die meisten von uns auf die englische Übersetzung angewiesen war und so ganz der Stimme der 95-Jährigen folgen konnte. Nach Hause fahre sie mit dem Gefühl, etwas erreicht zu haben, erzählt sie mir: „Ich habe das Gefühl, dass das, was wir hier die letzten Tage gemacht und erlebt haben, einen guten Effekt auf die Zukunft hat – und wenn der nur ganz minimal ist."

Porträt von Julia.

Julia kommt aus Polen. In ihrer Heimatstadt arbeitet sie ehrenamtlich in der Gedenkstätte eines ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers. © DBT/Stella von Saldern

„Man sollte an alle denken"

Auch Elza Baker hat Auschwitz überlebt. „Ich spreche zu euch aus meinem Herzen", sagt sie, die auch an die Ermordung vieler Sinti und Roma im Holocaust erinnert. Die Rede, die sie vorbereitet habe, müsse aber jemand anderes vorlesen. Elza ist blind. Besonders die Worte dieser Zeitzeugin hätten sie sehr bewegt, sagt Melissa (20) aus Leipzig. „Man sollte an alle denken, die in den Lagern gestorben sind, zum Beispiel auch an die Kriegsgefangenen, die Homosexuellen oder an die Menschen mit Behinderungen", sagt sie.

Melissa arbeitet für viele Projekte, die sich für die Belange der Sinti und Roma in Deutschland einsetzen; dabei gehe es vor allem um Empowerment, erklärt sie. Im Stammlager von Auschwitz gibt es in einer der Baracken eine Ausstellung zum Massenmord an den Sinti und Roma. Dass sie diese gemeinsam mit ihrer Gruppe besichtigen konnte, gehöre zu den wichtigsten Momenten, die sie von dieser Jugendbegegnung mit nach Hause nehme, so Melissa.

Eine Gruppe von Jugendlichen läuft durch die Stadt Oświęcim.

In Oświęcim leben heute keine Juden mehr. © DBT/Stella von Saldern

Unser Hotel

Als wir am späten Abend zurückkommen, muss ich an eine Geschichte denken – unsere Stadtführerin durch Oświęcim hatte sie uns am Vormittag erzählt. Früher stand dort, wo heute unser Hotel steht, das Haus der jüdischen Familie Haberfeld, die eine erfolgreiche Wodka- und Likörfabrik führte. Vater und Mutter, sie hießen Alfons und Felicia, fuhren im Sommer 1939 nach New York: Auf der Weltausstellung sollten ihre Spirituosen präsentiert werden. Die zweijährige Tochter Franciszka blieb zu Hause. Die Großmutter sollte aufpassen.

Auf dem Weg zurück nach Polen brach der Krieg aus. Alfons und Felicia konnten nicht zurück und strandeten in Schottland. Jeder Versuch, die Tochter nachzuholen, scheiterte. Franciszka wurde nach Belzec deportiert und dort ermordet. Die grausame und traurige Geschichte von Oświęcim lässt sich zurückverfolgen bis in unsere Schlafzimmer, denke ich mir.

Heute ist das jüdische Leben völlig aus der Stadt verschwunden. Kein einziger Mensch jüdischen Glaubens lebe mehr in Oświęcim, erzählt unsere Stadtführerin. Vor dem Krieg waren etwa ein Drittel der Stadtbevölkerung Juden.

Teilnehmer der Jugendbegegnung im Gruppenfoto.

Während der Stadtführung posieren wir fürs Gruppenfoto. © DBT/Stella von Saldern

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