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Gedenkstunde 2023 „Es sind ja schlimme Geschichten, die wir zu erzählen haben“

Vor dem Bundestag sprachen Rozette Kats und Klaus Schirdewahn über ihre Erfahrungen mit Gewalt, Verfolgung und Angst. Beide besuchen auch regelmäßig Schulen, um mit Jugendlichen über die NS-Zeit und die Verfolgung queerer Menschen bis heute zu sprechen.

Klaus Schirdewahn (links) und Rozette Kats (rechts) am Rednerpult des Plenarsaals

Klaus Schirdewahn und Rozette Kats bei ihren Reden im Bundestag. © picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka

Rozette Kats wurde in eine jüdische Familie geboren. 1943 gaben ihre Eltern sie im Alter von acht Monaten an ein niederländisches Ehepaar. Zu ihrem Schutz bekam sie den Namen Rita und wuchs bei ihren Pflegeeltern auf, die ihr erst kurz vor ihrem sechsten Geburtstag erzählten, dass ihre Eltern in Auschwitz ermordet worden waren. Erst als erwachsene Frau beschäftigte sie sich mit ihrer Geschichte und begann, vor Schulklassen darüber zu sprechen.

Klaus Schirdewahn wurde 1964 als Siebzehnjähriger nach Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches wegen der Liebe zu einem anderen Mann schuldig gesprochen wurde. Er galt daraufhin lange als vorbestraft. Der Paragraf wurde 1935 verschärft und galt in dieser Fassung in der Bundesrepublik noch bis 1969. Erst 1994 wurde er ganz abgeschafft.

Was bedeutet es Ihnen, vor dem Deutschen Bundestag über Ihre persönliche Geschichte zu sprechen?

Rozette Kats: Das ist eine große Ehre. Als ich gefragt wurde, habe ich sofort zugesagt. Erst später ist mir bewusst geworden, was es bedeutet, vor dem Deutschen Bundestag zu sprechen. Es beeindruckt mich tief, denn ich bin mir sehr bewusst, warum ich da stehe und wen ich alles vertrete. Das ist keine kleine Sache.

Klaus Schirdewahn: Als ich gefragt wurde, ob ich in der Gedenkstunde sprechen möchte, war ich erstmal platt. Ich habe mir auch Bedenkzeit erbeten, weil ich etwas Angst hatte. Aber dann habe ich zugesagt, weil mir klar wurde, dass ich die Chance bekomme, für die queere Community dort zu stehen und die Gesellschaft darauf zu stoßen, was war und dass die Diskriminierung und auch die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen noch lange über das Ende des Krieges hinaus weiterging.

Sie gehen beide in Schulen, um von Ihren Erfahrungen zu berichten. Was ist Ihnen besonders wichtig im Gespräch mit den jungen Menschen?

Klaus Schirdewahn: Die Schülerinnen und Schüler stellen viele Fragen – und je nachdem, wie gut sie vorher auf das Thema vorbereitet wurden, entwickeln sich sehr gute Gespräche und es entstehen keine peinlichen Situationen. Mein Eindruck ist, dass die Jugendlichen durch meine Schilderungen nahe an das Thema herangeführt werden. Ich habe selbst erlebt, was sie heute im Geschichtsunterricht lernen: über den Paragrafen 175, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, oder die Rehabilitierung von Homosexuellen in der Bundesrepublik Deutschland. Das vermittelt sich durch mich als Person vermutlich besser als durch einen Text in einem Buch.

Rozette Kats: Ich gehe schon seit mehr als 25 Jahren in Schulen und habe mir angewöhnt, sehr offen zu erzählen – nicht nur, was während des Kriegs mit mir geschehen ist, sondern auch danach. Welche Spätfolgen das hatte, was ich erlebt habe. Ich habe das Ziel, das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Menschen eine Verantwortung haben, nicht nur sich selbst gegenüber, sondern auch ihren Mitmenschen. Ohne dieses Bewusstsein kann man andere Menschen nicht verstehen und ohne Verständnis kann man in dieser Welt nicht zusammenleben. Indem ich mich öffne, versuche ich Empathie zu erzeugen. Das ist die Voraussetzung für ein gutes Zusammenleben.

Wie reagieren die Schülerinnen und Schüler auf Ihre Geschichten?

Rozette Kats: Es sind ja schlimme Geschichten, die wir zu erzählen haben, und das macht die Jugendlichen nachdenklich. Ich mache die Erfahrung, dass sie nicht sofort reden oder Fragen stellen können. Sie brauchen ein bisschen Zeit. Wenn ich gesprochen habe, lade ich sie immer ein, meine Dokumente und all das, was ich in einem kleinen Koffer mitbringe, anzuschauen. Und dann kommen auch die Fragen. Wenn ich in Grundschulen bin, ist es anders: Die kleinen Kinder fangen sofort an zu reden und zu fragen.

Wie erstaunt sind denn eigentlich die Schülerinnen und Schüler, dass der Paragraf 175 in der Bundesrepublik erst Jahrzehnte nach dem Krieg reformiert und dann erst 1994 gestrichen wurde?

Klaus Schirdewahn: Die sind immer ganz fertig, wenn sie hören, wie lange der noch in Kraft war. Zugleich haben sie keine Vorstellung davon, wie wir gelebt haben, dass wir uns nicht zuhause verabreden konnten und uns verstecken mussten. Viele junge Menschen heute verabreden sich über Apps, sind ganz frei und ganz offen mit ihrer Homosexualität. Aber es gibt auch heute noch junge Menschen, die ihre Sexualität verstecken, ein Doppelleben führen, weil sie Angst haben – einmal vor der Ablehnung durch die eigene Familie. Aber es gibt auch in unserer Gesellschaft immer noch Gruppen, die die Ablehnung bewusst weiter schüren. Und dann ist es auch nicht hilfreich, wenn etwa, wie in Baden-Württemberg, Schulbücher, die über gleichgeschlechtliche Liebe informieren wollen, zurückgezogen werden, weil Beiräte, auch mithilfe der Kirche, Druck ausüben. Da müssen die Verantwortlichen in der Politik entscheiden, dass das Thema zum Unterrichtsstoff gehört. Öffentlichkeit ist wichtig. Auch deshalb ist es so gut, dass über das Thema jetzt auch in der Gedenkstunde im Bundestag gesprochen wird.

Was wünschen Sie sich: Wie soll an die Zeit des Nationalsozialismus, an die Verfolgung von Homosexuellen erinnert werden?

Rozette Kats: In Schulen muss viel mehr darüber gesprochen werden. Die Organisation, die mich und viele andere als Überlebende in die Schulen vermittelt, tut, was sie kann. Aber das reicht nicht. Die ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema im Unterricht fehlt. Ab 15 Jahren haben die Schülerinnen und Schüler in den Niederlanden keinen Geschichtsunterricht mehr. Das darf nicht sein.

Klaus Schirdewahn: Es ist toll, dass es heute die „Ehe für alle“ gibt. Aber das ändert nichts daran, dass die Akzeptanz in Teilen der Bevölkerung fehlt. Wie Frau Kats sagt: In Schulen, in der Öffentlichkeit muss viel mehr gesprochen werden – auch über das, was queeren Menschen passiert ist und immer noch passiert. Eine bessere Aufklärung und Vorbilder – das ist nötig. Deshalb habe ich meine Geschichte auch für das „Archiv der anderen Erinnerungen“ der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld erzählt. Öffentlich zu machen, was geschehen ist und was geschieht, ist einfach wichtig.

Hier seht ihr die Bundestagsreden von Rozette Kats und Klaus Schirdewahn im Video:

Rozette Kats

Rede im Deutschen Bundestag

Klaus Schirdewahn

Rede im Deutschen Bundestag

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