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Ukraine-Krieg „Der erste Tag dauerte ewig. Länger als alle Tage“

Die ukrainische Künstlerin Yevgenia Belorusets hat die ersten Wochen des Krieges in Fotos und Texten festgehalten. Ihre Ausstellung „Nebenan. Das Kyjiwer Kriegstagebuch“ ist noch bis Februar im Bundestag zu sehen.

Die Künstlerin Yevgenia Belorusets vor zwei ihrer Bilder bei der Ausstellungseröffnung

„Wie aus einem bösen Märchen, einer Horror-Fantasie“: Am ersten Tag kam der Krieg Yevgenia Belorusets noch surreal vor. Diesen Anfang wollte sie festhalten. © DBT/Kira Hofmann/phototek

Du warst in Kyjiw, als der Krieg begann. Wie erinnerst du dich an den 24. Februar?

Diese Frage wird mir oft gestellt. Und ich glaube, wenn ich darauf antworte, schreibe ich meine Erinnerungen in gewisser Weise jedes Mal neu um.

Als ich morgens aufgewacht bin, sah ich, dass sehr viele verschiedene Freunde, Bekannte und Verwandte versucht hatten, mich anzurufen. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viele unterschiedliche Nummern auf meinem Display. Ich suchte nach einem Zusammenhang zwischen den Menschen. Ich dachte, vielleicht ist irgendeinem gemeinsamen Bekannten etwas passiert. Schließlich rief ich meine Cousine zurück, um herauszufinden, worum es ging. Sie sagte: Der Krieg ist ausgebrochen. Das klang so surreal. Wie aus einem Fantasy-Buch, einem bösen Märchen, einer Horror-Fantasie.

Dieser erste Tag dauerte ewig. Länger als alle Tage. Ich habe Schutzbunker aufgesucht. Ich habe mitten im Herzen von Kyjiw Kriegspanzer gesehen. Ich habe eine unglaubliche Veränderung beobachtet: Noch am Morgen waren die Läden geöffnet. Aber in der zweiten Tageshälfte verschwand die Stadt einfach. Läden, Cafés, Restaurants – alles war zu. Und zwar so gründlich geschlossen, dass man dachte: Es gibt kein Leben mehr in dieser Stadt. Viele meiner Freunde, besonders die mit Kindern, waren zu dem Zeitpunkt schon in ihren Autos unterwegs, um das Land zu verlassen.

Im Rückblick ist dieser erste Tag für mich sehr wichtig, weil er noch auf den Frieden deutete. Weil er zeigte, dass der Krieg keine Normalität ist, sondern etwas Außerordentliches. Das unterschied den ersten Tag von allen weiteren.

Schon an diesem ersten Tag hast du angefangen, die Geschehnisse in Bildern und Texten festzuhalten. Hat dir die künstlerische Arbeit geholfen, zu begreifen, was da passiert?

Ich denke, ja. Das war ein Geschenk für mich, diese Art von Arbeit machen zu können. Eine große Möglichkeit, nicht zu vergessen, was um mich herum passiert, sondern es täglich zu dokumentieren. Das half mir, wach zu bleiben.

War es gefährlich, diese Fotos zu machen?

Es war sehr gefährlich, Fotos zu machen. Schon nach den ersten Tagen des Krieges wurde klar, dass Fotos zu Anschlägen führen können. Das russische Militär hat sofort angefangen, mit Hilfe von Big Data Fotos auszuwerten. Die Menschen haben Fotos von ihren zerstörten Häusern gepostet. Und diese Bilder des Entsetzens wurden ausgenutzt, um Raketenziele zu korrigieren. In so einer Atmosphäre zu fotografieren, war sehr schwer. Ich habe es trotzdem gemacht, weil ich die menschliche Seite dieses Krieges in Erinnerung behalten wollte. Was Fotografie kann, kann kein Text. Fotografie hält die Essenz des Lebens fest.

Gibt es ein Bild, das für dich besonders eindrücklich zeigt, was da in deiner Heimat passiert?

Ich kann ein Bild beschreiben, das ich gerade vor Augen habe: Man sieht darauf eine zerstörte U-Bahn-Station. Eine Frau in Weiß schaut auf diese Ruine. Sie steht in ihrer friedlichen weißen Kleidung mitten in dieser unglaublichen Zerstörung und schaut ungläubig, fast naiv darauf. Sie steht mitten in diesem Krieg und wundert sich, dass der Mensch anderen Menschen so etwas antun kann. Diese Verwunderung ist für mich eine Bewahrung des Humanismus. Denn wenn der Krieg seine Regeln durchsetzt, gibt es nur noch Kampf, die universalen Werte des menschlichen Lebens verschwinden. Wenn man sich aber über die Verbrechen des Krieges wundert, so als gäbe es seine Regeln nicht, dann werden diese Werte auf gewisse Weise bewahrt.

Du lebst in Kyjiw und Berlin. Wie erlebst du die Reaktionen der Deutschen auf den Krieg?

Unterschiedlich. Ich denke, Deutschland hat eine sehr tief verwurzelte Pazifismus-Tradition, die ich auch respektiere. Die Notwendigkeit, sich an einem Konflikt zu beteiligen, bei dem täglich Menschen sterben, ist für Deutschland eine unaufhörliche Provokation. Man muss alles neu denken, die eigenen Werte neu definieren. Wie handelst du, wenn eine unbeschreibliche Gewalt vor deinen Augen stattfindet? Wie kannst du sie stoppen, wenn diplomatische Wege versagen? Mischst du dich ein, um den Verbrechern Einhalt zu gebieten? Oder mischst du dich nicht ein, hilfst du den Schwachen, aber ohne das Böse mit Waffen zu bekämpfen? Das ist eine große Frage, die die deutsche Gesellschaft beschäftigt.

Ich verstehe das. Eigentlich geht es mir genauso. Aber als jemand, der das alles mit dem eigenen Körper erlebt hat, denke ich: Je schneller man handelt, desto weniger Opfer gibt es. Wenn die Ukraine die Hilfen, die sie heute bekommt, schon gestern bekommen hätte, wäre vielleicht viel Schlimmes nicht passiert. Und wenn die Hilfen, die morgen kommen, schon heute kämen, würde dieser schreckliche Prozess vielleicht beschleunigt und schneller beendet.

Wann warst du das letzte Mal in Kyjiw? Wie hat sich die Stadt von Kriegsbeginn bis heute verändert?

Ich war Ende August zuletzt dort, zum Unabhängigkeitstag. Kyjiw erlebt ständig neue Episoden des Krieges. Im Sommer war es noch eine Stadt, die gar nicht wirklich angegriffen war, die aber Angst vor dem russischen Terror hatte. Viele Kyjiwer haben die Stadt vor dem Unabhängigkeitstag verlassen, weil Russland mit Angriffen gedroht hatte. Deshalb war Kyjiw damals leer.

Heute wird die Stadt regelmäßig angegriffen. Es ist nicht leicht, in Kyjiw zu wohnen. Das Licht fällt täglich stundenlang aus. Es ist kalt. Es ist ein sehr spartanisches Leben für die, die entschieden haben, dass es wichtiger ist als alles andere, dort zu bleiben. Russland hat entschieden, die Ukraine zu zerstören und das Leben der Menschen unerträglich zu machen.

Dein Tagebuch reicht bis zum 5. April. War es schwierig, einen Schlusspunkt zu finden?

Es war sehr schwer. Ich wollte nicht aufhören. Aber Mitglieder meiner Familie wollten ausreisen. Ich sollte sie begleiten und konnte und wollte nicht absagen. Deswegen war dieser Termin gesetzt. So ging es leichter. Im Rückblick bin ich dankbar, weil ich glaube, es in unmöglich, in so einer Intensität während des Krieges über den Krieg zu arbeiten. Dazu kommt: Dieses Tagebuch ist dadurch ein Dokument der ersten Etappe des Krieges, die schnell in Vergessenheit gerät. Das finde ich sehr wichtig.

Der Krieg dauert an. Wirst du ihn weiter künstlerisch behandeln?

Das kann ich noch nicht sagen. Ich denke die ganze Zeit an den Krieg. Vor Kurzem habe ich einen langen Artikel darüber geschrieben, was derzeit in der Ukraine passiert, der vielleicht bald veröffentlicht wird. Ich kann an gar nichts anderes denken und ich kann auch an nichts anderem arbeiten. Aber ich weiß nicht, wann ich die Ergebnisse meiner Arbeit zu einem Ganzen zusammenfügen und zeigen werde.

Zwei Fotoausstellungen aus Kyjiw

Die Ausstellung „Nebenan. Das Kyjiwer Kriegstagebuch“ von Yevgenia Belorusets könnt ihr noch bis 24. Februar im Bundestag sehen, wenn ihr in Berlin sein. Wie, wann, wo genau, erfahrt ihr auf der Ausstellungsseite auf bundestag.de.

Außerdem könnt ihr euch auf bundestag.de die digitale Fotoausstellung der Stadt Kiew anschauen. Unter dem Titel „Kyjiw ist das unbezwingbare Herz Europas“ sind hier Eindrücke aus der ukrainischen Hauptstadt in Bildern festgehalten.

Die Ausstellung „Nebenan. Das Kyjiwer Kriegstagebuch“ eröffnete Bundestagspräsidentin Bärbel Bas gemeinsam mit der Künstlerin – hier seht ihr das Video zur Eröffnung:

(jk)

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