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Auslands-Serie: Ukraine „Austausch bringt die Ukraine den Deutschen näher“

Wie arbeiten Parlamentarier anderer Länder? Abgeordnete des Bundestages treffen regelmäßig Kollegen aus aller Welt. mitmischen.de fragt nach – heute beim Vorsitzenden der Deutsch-Ukrainischen Parlamentariergruppe Omid Nouripour (Grüne).

Porträtfoto Omid Nouripour

Politische Bildung, geschichtliche Aufarbeitung und Energiepolitik: Diese Themen verbindet die Ukraine mit Deutschland, sagt Omid Nouripour. © Deutscher Bundestag/Inga Haar

Welche Themen beschäftigen Sie in der Gruppe am meisten?

Wir gestalten unsere Agenda flexibel entsprechend den Höhepunkten der sehr dynamischen ukrainischen Politik. Immer hoch auf der Agenda stehen die Themen des Reformprozesses gemäß des EU-Assoziierungsabkommens, die Wirtschaftsbeziehungen und die Energiepolitik – vor allem des umstrittenen Baus von Nord Stream 2.

Hinzu kommt die Vermittlungsfunktion Deutschlands im friedenspolitischen Prozess bei den Konflikten auf der Krim und im Donbass. Da beschäftigen die Gruppe in erster Linie die Fragen der Menschenrechte und des humanitären Zugangs zu den besetzten Gebieten, aber auch die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der Ukraine. Im letzten Jahr haben natürlich die humanitären Fragen angesichts der Corona-Lage in der Ukraine an Bedeutung zugenommen.

Einen besonderen Auftrag sehen wir darin, gemeinsam die deutsch-ukrainische Geschichte aufzuarbeiten. Erinnerungspolitische Themen wie die Verantwortung Deutschlands für die NS-Verbrechen von 1941 bis 1945 sind uns ein besonderes Anliegen. Man darf nicht vergessen, dass alle Staaten der ehemaligen Sowjetunion massiv unter dem deutschen Feldzug gelitten haben und die heutige Ukraine vollständig von der Wehrmacht besetzt wurde und somit ihre Bevölkerung stark in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Wie erleben Sie das öffentliche Interesse in Deutschland an der Ukraine und umgekehrt?

Ich kann deutlich feststellen, dass sich die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens verstärkt haben. Das gegenseitige Interesse etabliert sich in mehreren gemeinsamen deutsch-ukrainischen Projekten, die unsere Länder näher zusammenbringen, wobei der Themenkreis sehr vielseitig ist. Er umfasst beispielsweise die politische Bildung, die geschichtliche Aufarbeitung sowie die Energiepolitik.

Ich freue mich besonders, dass in den letzten Jahren mehrere Förderungsmöglichkeiten für den Jugendaustausch zur Verfügung gestellt wurden. So wurden zum Beispiel deutsch-ukrainische Sprachwerkstätten, Residenzen für junge Künstler und Künstlerinnen oder ein Praktikum für deutsche Studierende im ukrainischen Parlament ermöglicht. Auch ukrainischen Autoren und Autorinnen werden mehrere Fördergelder für die Übersetzungen ihrer Bücher ins Deutsche bereitgestellt. Dieser intensive Austausch bringt die Ukraine den Deutschen als ein europäisches Land näher, als einen Teil der gemeinsamen Geschichte – und das finde ich sehr wichtig.

Wie funktioniert der Parlamentarismus in der Ukraine? Welche Unterschiede gibt es zu Deutschland?

Die Ukraine ist eine junge Demokratie. Das bedeutet, dass sich ihr politisches System sowie ihre außenpolitische Ausrichtung – verglichen mit Deutschland – noch im Wandel befinden. Das politische System in der Ukraine vereint die Elemente des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems. Bei einem solchen System kommt der Legislative vor allem die Funktion der parlamentarischen Kontrolle über den Präsidenten und das Ministerkabinett zu, gemäß dem in der Verfassung verankerten Gewaltenteilungsprinzip. Das Staatsoberhaupt der Ukraine ist zwar ein gewählter Präsident, er ist allerdings nicht der Regierungschef. Das oberste Exekutivorgan ist das Ministerkabinett. Es ist sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten als auch des Parlaments abhängig und wird auf Vorschlag des Präsidenten mit Zustimmung der Werchowna Rada (Anm. d. Red.: einziges gesetzgebendes Organ der Ukraine) ernannt und zusammengestellt.

Die „Revolution der Würde“ im Jahr 2014 und die historische Ratifizierung des EU-Assoziierungsabkommens durch die Werchowna Rada haben eins klar gestellt: Die Ukraine strebt nach einer europäischen Perspektive und damit verbunden nach einer engen interparlamentarischen Beziehung zu den EU-Staaten. Dies sieht eine Erhöhung der Transparenz, Vorhersehbarkeit und Effizienz des Gesetzgebungsprozesses vor – und somit die strategische Stärkung der Legislative im ukrainischen politischen System.

Hatten Sie einen persönlichen Bezug zur Ukraine, bevor Sie den Vorsitz übernahmen?

Die Orangene Revolution im Jahr 2004 hat mich damals in ihren Bann gezogen. Damals ging die ukrainische Bevölkerung auf die Straße, um sich für faire und freie Wahlen und ihre Zukunft als einen Rechtstaat in Europa einzusetzen. Seitdem bin ich fasziniert von einem Land, in dem die Menschen sich in ihrem Kampf für Freiheit und Würde nicht einschüchtern lassen. Ich erlebe die Ukraine immer wieder als ein europäisches, weltoffenes und freies Land.

Gab es etwas, das Sie überrascht hat?

Was mich ganz besonders überrascht hat, ist die Unermüdlichkeit der ukrainischen Zivilgesellschaft. In kürzester Zeit hat sie sich zu einer eigenständigen Akteurin im Staat entwickelt. Neben den drei staatlichen Gewalten kommt der Zivilgesellschaft in der Ukraine eine quasi Aufsichtsfunktion zu. Und es ist wirklich erstaunlich, wie sie unter den widrigen und spaltenden Umständen das Land im Krieg zusammenhält – mit ihrem beachtlichen Einfluss auf die Politik, insbesondere auf die Korruptionsbekämpfung.

Ich sehe jedoch auch besorgniserregende Trends: Die Zahl der jungen, gut ausgebildeten Menschen, die die Ukraine für eine bessere Zukunft im Westen verlassen, nimmt zu. Die Ukraine braucht nach wie vor mehr wirtschaftliches Engagement und Investitionen, um ihre inneren Märkte zu stabilisieren und so Zukunftsperspektiven für ihre jüngere Generation zu schaffen.

Haben Sie – für die Zeit, in der das Reisen wieder unproblematisch möglich sein wird – einen Reise-Tipp in der Ukraine?

2019 gehörte ich beim Frankfurter Europa-League-Spiel in Charkiw gegen Donezk zur Eintracht-Delegation. Da war ich auch mit einem Stadtführer in der ukrainischen Millionenstadt unterwegs und kann Charkiw als nicht offensichtliches Reiseziel nur empfehlen.

Auf den ersten Blick fällt Charkiw als Industriestadt auf, jedoch hat sie eine dynamische Kultur- und Wissenschaftsszene. Zu verschiedenen Zeiten ließen sich dort mehrere berühmte Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Künstler und Künstlerinnen sowie Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nieder. Zum Beispiel der Chirurg Ilja Metschnikow, der Physiker Lew Landau oder der Komponist Joseph Schillinger. Aktuell lebt der großartige Schriftsteller Serhij Zhadan in Charkiw.

Die Stadt beeindruckt jedoch besonders durch ihre moderne Geschichte. Charkiw war die erste Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik. In den Jahren 1919 bis 1934 erlebte die Stadt am Rande des ehemaligen russischen Reiches einen Umbruch. Hier liegen die Ursprünge der ukrainisch-sprachigen modernen Literatur- und Kunstszene.

Über Omid Nouripour

Omid Nouripour, 45, sitzt seit 2006 für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Sein Wahlkreis ist Frankfurt am Main II in Hessen. Der gebürtige Iraner lebt seit 1988 in Hessen und studierte Deutsche Philologie, Politikwissenschaft, Philosophie und Rechtswissenschaft in Mainz (ohne Abschluss). Im Bundestag ist er Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und des gemeinsamen Ausschusses von Bundesrat und Bundestag. Mehr erfahrt ihr auf seinem Profil auf bundestag.de.

(loh)

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