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Deutsche Geschichte Verschlungene Wege zur Demokratie

Von dem ersten Versuch, eine demokratische Verfassung für ganz Deutschland umzusetzen, erzählt derzeit eine Ausstellung im Bundestag. Raphael Gross, Präsident des Deutschen Historischen Museums, erklärt die Hintergründe.

Raphael Gross am Rednerpult, im Hintergrund die Ausstellung „Odyssee einer Urkunde“

Die „komplizierte und faszinierende Geschichte“ einer Urkunde: Raphael Gross bei der Ausstellungseröffnung im Bundestag. © DBT/Felix Zahn/photothek

Am 18. Mai 1848 trat in der Frankfurter Paulskirche das erste gesamtdeutsche Parlament zusammen. Das ist 175 Jahre her. Warum sollten die Ereignisse von damals einen jungen Menschen heute interessieren?

Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Die Ereignisse von damals erinnern uns daran, wie sehr in der deutschen Geschichte um Demokratie gekämpft werden musste – und gekämpft wurde. Diese muss man im Übrigen auch nicht nur positiv bewerten. Heute würde man vieles anders sehen als vor 175 Jahren.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel waren damals an der Erarbeitung der Verfassung nur Männer beteiligt. Und die hatten auch gar kein Interesse daran, die politische Mitbestimmung von Frauen zu fördern.

Die sogenannte Paulskirchenverfassung, die Sie ansprechen, ging 1849 aus der Versammlung in der Frankfurter Paulskirche hervor. Sie war die erste gesamtdeutsche und demokratische Verfassung. Allerdings wurde sie dann gar nicht umgesetzt. Woran lag das?

Die Treiber der damaligen Revolution wollten eine konstitutionelle Monarchie, also ein Königreich mit einer demokratischen Verfassung. Ziel war ein gesamtdeutscher Nationalstaat. Die Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung wählten 1849 König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen zum „Kaiser der Deutschen“. Aber die größten Staaten des Deutschen Bundes erkannten diese Wahl nicht an. Wie wir auch in unserer aktuellen Ausstellung „Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können“ zeigen, war auch Friedrich Wilhelm IV. selbst nicht interessiert daran, diese Krone anzunehmen. Er fühlte sich als ein Monarch, der von Gott eingesetzt ist. Er wollte nicht von der Gnade des Volkes abhängen. Vielleicht hatte er auch politische Sorgen. Die Revolutionäre wollten ein deutsches Reich ohne Österreich, der König aber schrak möglicherweise vor einem Konflikt mit Österreich zurück.

Nachdem er die Krone abgelehnt hatte, versuchten die Revolutionäre, durch eine sogenannte Reichsverfassungskampagne die Paulskirchenverfassung zumindest in einigen Teilen des Deutschen Bundes trotzdem durchzusetzen. Aber diese Bemühungen wurden militärisch niedergeschlagen. Damit war die Revolution gescheitert.

Spezial-Seite zur Paulskirchenverfassung

Auf einer Spezial-Seite auf bundestag.de findet ihr weitere Interviews, Videos und Textbeiträge zum Thema Paulskirchenverfassung.

Im Text zur Ausstellung ist zu lesen, die Paulskirchenverfassung sei „trotz ihres Scheiterns ein Meilenstein des deutschen Parlamentarismus und unserer Demokratie“. Warum?

Nun, das war immerhin die erste gesamtdeutsche Bemühung um eine Verfassung, die von einem allgemeinen, wenn auch reinen Männer-Wahlrecht ausgegangen wäre. Und obwohl die Durchsetzung am Willen der Monarchen scheiterte, blieb dieser erste Versuch ein Orientierungspunkt für die weiteren Demokratieentwicklungen in Deutschland.

Als nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Monarchie tatsächlich abgeschafft worden war, berief man sich in der Weimarer Nationalversammlung auch auf das Erbe der Paulskirche. In der Paulskirchenverfassung gab es einen Katalog von Grundrechten, der als Vorbild für die Weimarer Verfassung diente. Insofern kann man schon sagen, dass das, was 1848/49 vorbereitet wurde, wegweisend war.

Das Grundgesetz, unsere heutige Verfassung, entstand 100 Jahre später, 1949. Sind darin noch Spuren der Paulskirchenverfassung zu finden?

Mit Blick auf die Grundrechte kann man durchaus Gemeinsamkeiten finden. Auch damals sollten etwa schon Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit oder die Gleichheit vor dem Gesetz in die Verfassung geschrieben werden. Manche Sätze stehen sogar wortgleich im heutigen Grundgesetz, etwa „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“. Zwischen einer konstitutionellen Monarchie und einer parlamentarischen Republik, wie wir sie heute haben, besteht natürlich aber ein großer Unterschied.

Die Ausstellung im Bundestag trägt den Titel „Odyssee einer Urkunde“. Was hat es denn mit der Geschichte dieses Schriftstücks auf sich, das die Stiftung Deutsches Historisches Museum dem Bundestag geliehen hat?

Dass dieses Pergamentpapier mit 405 Unterschriften darauf ein wichtiges Zeitdokument ist, war den Beteiligten schon damals bewusst. Nach dem Scheitern der Revolution wurde es 1851 von dem damaligen Verwalter des Nachlasses der Paulskirche nach England gebracht, weil er sich sorgte, dass es von den Fürsten zerstört werden könnte. 1871 gelangte es in den Reichstag, wo es dann aufbewahrt wurde. 1930 wurde es gestohlen, tauchte aber 1931 wieder auf. Ab 1933 bewahrten die Nationalsozialisten die Urkunde im Reichsarchiv auf. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging sie dann wieder verloren – man weiß bis heute nicht, wie. Im Sommer 1951 entdeckte ein 17-Jähriger sie dann ganz zufällig auf einem Schutthaufen am Jungfernsee bei Potsdam. Offenbar merkte er, dass es sich um etwas Wertvolles handelte. Ihm ist es zu verdanken, dass sie dann wieder aufbewahrt wurde und 1953 in die Sammlung des damals neugegründeten Museums für deutsche Geschichte (MfDG) in Ost-Berlin gelangte. Nach dem Ende der DDR wurde das Deutsche Historische Museum gegründet, das die Sammlungen des MfDG übernahm – und dort landete die Urkunde in den 80er Jahren.

Diese komplizierte und faszinierende Geschichte zeigt die Ausstellung. Sie steht vielleicht auch ein bisschen symbolisch für die verschlungenen Wege, die es brauchte, bis Deutschland zu einer verfassungsgestützten Demokratie werden konnte.

Sie stehen dem Deutschen Historischen Museum vor, einem der größten Geschichtsmuseen der Welt. Was ist aus Ihrer Sicht wichtig, um junge Menschen für Geschichte zu begeistern?

Für Jugendliche sind bestimmte Medien ein absoluter Anziehungspunkt, die nicht unbedingt mit den klassisches Objekten eines Museums übereinstimmen. Die Frage, wie man welche Medien sinnvoll einsetzen kann, um Inhalte zu präsentieren, ist für uns ein Riesenthema. Es gibt auf jeden Fall ein Interesse für Geschichte, auch bei jungen Menschen. Aber es ist nicht ganz leicht, sie mit klassischen Ausstellungen zu erreichen.

Bietet die Digitalisierung neue Chancen für die Erinnerungskultur?

Neue Medien generieren immer auch neue Formen von Lernen. Wir haben das 2021 mal in der Ausstellung „Von Luther zu Twitter. Medien und politische Öffentlichkeit“ dargestellt. Wir haben versucht zu zeigen, wie Buchdruck, Rundfunk, Fernsehen und Internet jeweils ganz neue Formen der Vermittlung von politischen und auch geschichtlichen Inhalten ermöglichten.

Ich würde sagen, wenn es darum geht, Wissen zu vermitteln, kann man jedes Medium sinnvoll verwenden. Etwas anderes ist es, wenn man erreichen möchte, dass junge Menschen etwa das schreckliche Leid nachvollziehen können, das den Opfern des Nationalsozialismus angetan wurde. Jahrzehntelang haben viele Initiativen versucht, Begegnung mit Überlebenden des NS zu ermöglichen – in der Hoffnung, dass das Zuhören und die Empathie, die daraus entstehen, etwas auslösen. Und das geht medial nicht. In dem Moment, wo diese Menschen nicht mehr unter uns sind, können wir diese Begegnung nicht mehr erreichen – egal, was wir mit neuen Medien versuchen. Solche Brüche muss man erkennen, gerade wenn man das Thema weiter für so wichtig hält wie wir es tun.

Zur Person

Prof. Dr. Raphael Gross

Prof. Dr. Raphael Gross wurde 1966 in Zürich geboren. Der Historiker war an verschiedenen Universitäten tätig und leitete unter anderem das Jüdische Museum Frankfurt am Main und das Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig, bevor er 2017 als Präsident die Leitung des Deutschen Historischen Museums übernahm.

Die Ausstellung

Bis 8. September ist die Ausstellung „Odyssee einer Urkunde. Die Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849“ im Bundestag zu sehen. Infos zur Anmeldung findet ihr hier.

Eindrücke von der Ausstellungseröffnung gibt es im Video:

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