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Wissenschaftler erklärt „Kompromisse galten als etwas Schlechtes“

Laura Heyer

Vor 150 Jahren entstand der erste deutsche Nationalstaat. Deutschland hatte noch einen Kaiser, aber auch erstmals ein gesamtdeutsches Parlament. Doch vieles war in der Volksvertretung von damals anders. Politikwissenschaftler Marc Debus erklärt es.

Holzstich von 1871 mit stehenden und sitzenden Menschen

So sahen sie aus, die Abgeordneten vor 150 Jahren. Dieser Holzstich von Hermann Lüders zeigt die erste Sitzung des Deutschen Reichstages im Gebäude des Preußischen Herrenhauses am 21. März 1871. © picture alliance/AKG Berlin

Vor genau 150 Jahren, am 21. März 1871, fand die erste Sitzung des Reichstages statt. Damals hatte Deutschland noch einen Kaiser und zugleich ein gewähltes Parlament. Was war damals grundlegend anders als heute?

Heute ist es ja so, dass das Parlament entscheidet, welche Regierung sich bilden kann. Eine Bundeskanzlerin oder ein Bundeskanzler wird mit der Mehrheit der Stimmen der Abgeordneten ins Amt gewählt. Er oder sie steht dann an der Spitze der Regierung und bestimmt die Ministerinnen und Minister. Im Kaiserreich war das anders. Die Regierung hing nicht vom Parlament ab, sondern vom Wohlwollen des Kaisers. Der Kaiser konnte einen Reichskanzler ernennen, unabhängig davon, ob diese Person eine Mehrheit im Parlament hatte.

Ein weiterer Unterschied ist: Der Reichstag im Kaiserreich hatte deutlich weniger zu sagen als der Bundestag heute. Aber trotzdem war es ohne ihn nicht möglich, Politik zu gestalten. Der Reichstag musste etwa Gesetzen zustimmen, sonst konnten sie nicht in Kraft treten. Gegen den Reichstag konnte also nicht regiert werden. Und: Der Reichstag hatte wie heute der Bundestag ein Wort mitzureden, wenn es darum ging, wieviel Geld die Regierung wofür genau ausgeben konnte. Er musste dem sogenannten Haushalt zustimmen, damit dieser in Kraft trat.

Was völlig anders war: Zu Zeiten des Kaiserreiches konnten Abgeordnete nicht gleichzeitig Mitglieder der Regierung werden. Wollte man ins Kabinett, also Minister werden, musste man sein Abgeordnetenmandat niederlegen. Heute kann man Mitglied des Bundestages sein und gleichzeitig Mitglied der Bundesregierung.

Wer durfte damals wählen und wer nicht?

Für die damalige Zeit war das Wahlrecht überraschend modern: Es gab allen Männern das Recht zu wählen, unabhängig etwa davon, wieviel Steuern sie zahlten. Zu dieser Zeit galt vielerorts das sogenannte Zensuswahlrecht, das in den meisten Staaten oder auch in Preußen galt: Beim Zensuswahlrecht hatten Wähler, die viele Steuern zahlten, ein höheres Stimmgewicht. Das gab es bei den Reichstagswahlen ab 1871 nicht mehr.

Aber das Wahlrecht schloss Frauen aus. Sie durften nicht wählen und auch nicht an Wahlen teilnehmen. Außerdem durften Soldaten nicht wählen, weil man eine Politisierung der Armee verhindern wollte. Aber Soldaten durften wiederum als Abgeordnete in den Reichstag gewählt werden. Noch ein Unterschied ist das Wahlalter: Das lag 1871 bei 25 Jahren und war also verglichen mit heute 18 Jahren relativ hoch.

Was waren das für Leute, die damals als Abgeordnete im Reichstag saßen?

Grundbesitzer, Anwälte, Journalisten und vermögende Personen waren überdurchschnittlich stark vertreten. Das hatte folgenden Hintergrund: Für Abgeordnete im Reichstag gab es kein Gehalt. Es wurden keine sogenannten Diäten gezahlt, wie wir es heute kennen. Man musste es sich leisten können, Abgeordneter zu sein. Personen, die abhängig beschäftigt waren, beispielsweise Arbeiter oder Angestellte, waren daher sehr viel seltener vertreten. Gehalt und Vermögen waren zwar keine offizielle Zugangsbeschränkung, indirekt waren sie es aber doch.

Und auch hier: Frauen durften 1871 keine Abgeordneten sein. Das änderte sich dann in der Weimarer Republik, als Frauen das aktive und passive Wahlrecht zugesprochen bekamen. Das war 1918. Aktiv heißt, sie durften selbst wählen, und passiv, dass sie auch gewählt werden konnten.

Eine wichtige Aufgabe des Parlaments heute ist die Kontrolle der Regierung. Gab es die damals auch schon?

Das Parlament hat in der Tat die Regierung beobachtet und kontrolliert. Allerdings musste beispielsweise der Reichskanzler auf Anfragen des Reichstages nicht zwangsläufig Antwort geben. Heute dagegen kommt die Bundeskanzlerin regelmäßig in den Bundestag und steht den Parlamentariern Rede und Antwort. Auch schriftliche Fragen aus dem Bundestag müssen beantwortet werden innerhalb bestimmter Fristen.

Der Reichstag hatte nicht die Macht, die Regierung zu disziplinieren, etwa mit der Drohung, sie abzuberufen. Heute dagegen kann das Parlament einen Regierungschef stürzen und einen neuen wählen.

Konnte man schon damals von einem „Arbeitsparlament“ sprechen?

Ausschüsse wie in einem Arbeitsparlament bildeten sich erst nach und nach im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Der Reichstag zuvor war quasi ein Redeparlament. Die Reden sollten aber nicht andere Reichstagsmitglieder überzeugen, sondern man redete für die eigene Partei, für die eigene Anhängerschaft. Es war nicht notwendig, mit anderen Parteien zu kooperieren, weil die Regierung ja nicht von der Mehrheit im Parlament abhing.

Das heißt, es gab auch keine zwingende Notwendigkeit, zwischen den Fraktionen im Parlament Kompromisse zu finden oder fixe Koalitionen zu bilden. Es gab nur ad hoc-Koalitionen, also nur für jeweils einen Zweck. Man sah Kompromisse als etwas Schlechtes an.

Im Bundestag werden die unterschiedlichen Interessen der Bürgerinnen und Bürger durch die Fraktionen abgebildet. War das damals auch schon so?

Es gab Fraktionen, ja. Hier muss man unterscheiden zwischen stark organisierten Parteien wie den Sozialdemokraten oder dem katholischen Zentrum auf der einen Seite und den eher personenzentrierten Parteitypen wie Konservative und Liberale, die eher locker organisiert waren.

Man sah bei Abstimmungen im Reichstag des Kaiserreichs eine hohe Geschlossenheit in den Fraktionen der Sozialdemokraten und des katholischen Zentrums. Mitglieder der Fraktionen der liberalen Parteien hingegen stimmten oft nicht so einheitlich ab.

Sie befassen sich mit politischer Partizipation, also Teilhabe. Welche Meilensteine gab es von 1871 bis heute?

Eine Grundbedingung in repräsentativen Demokratien ist, dass möglichst viele soziale Gruppen wahlberechtigt sind und aktiv mitentscheiden können. Daher ist ein Meilenstein natürlich das Wahlrecht für Frauen, das 1918 eingeführt wurde und 1919 bei der Wahl zur Nationalversammlung erstmals praktiziert werden konnte. Hinzu kam, dass damals das Wahlalter um fünf Jahre auf 20 Jahre gesenkt wurde, sodass auch viele jüngere Menschen wahlberechtigt waren. Auch Soldaten waren in der Weimarer Republik wahlberechtigt.

1949 bei der Wahl zum ersten Deutschen Bundestag gab es erst einmal einen kleinen Rückschritt, weil das aktive Wahlalter von 20 auf 21 Jahre erhöht wurde. Dann mit den Wahlen zum Bundestag 1972 wurde es wieder auf 18 Jahre abgesenkt. Das erhöhte natürlich in der Bevölkerung den Anteil derer, die wahlberechtigt waren, deutlich. In Zahlen heißt das: 1972 waren 67 Prozent wahlberechtigt, also rund zwei Drittel der in Deutschland lebenden Bevölkerung.

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Welche weiteren parlamentarischen Meilensteine gab es seit 1871? Viele Informationen finden sich in einen „Kalenderblatt“ auf bundestag.de, auf einer Sonderseite sowie bei LeMO, dem Lebendigen Online-Museum.

Sind denn die, die wählen durften, auch zu Wahl gegangen?

Die Wahlbeteiligung bei den ersten Reichstagswahlen, also in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts, war noch recht niedrig. 1873 lag sie bei nur 51 Prozent, stieg dann aber an auf über 80 Prozent zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914. Das lag an einer größeren Politisierung der Gesellschaft, etwa durch die aufkommenden gesellschaftlichen Umwälzungen, bedingt durch die industrielle Revolution und ihre massiven Konsequenzen.

Zur Zeit der Weimarer Republik gab es auch eine hohe Wahlbeteiligung von im Regelfall über 75 Prozent, bis zu 88,8 Prozent im Jahr 1933. Die Bevölkerung war sehr aktiviert. Zur Zeit der Bundesrepublik, in den 70er-Jahren, erlebte man in Westdeutschland einen absoluten Höhepunkt der Wahlbeteiligung mit über 90 Prozent. Das muss man sich mal vorstellen: Von hundert Personen gingen über 90 wählen. Seitdem aber sank die Wahlbeteiligung, momentan auf etwas mehr als 70 Prozent.

Was können Sie uns über die Politisierung von jungen Leuten zur Zeit des Kaiserreichs im Vergleich zu heute sagen?

Dabei spielten sogenannte Vorfeldorganisationen der Parteien eine gewisse Rolle. Also Organisationen, die den Parteien inhaltlich nahestehen. Die waren früher durchaus stärker.

Wenn die eigenen Eltern zum Beispiel Industriearbeiter waren, dann bewegte man sich auch in einem politisch-kulturellen Umfeld, das dem Industriearbeitertum nahestand. Dann war man etwa bei der sozialistischen Jugend und bei sozialdemokratisch geprägten Kinder- und Jugendvereinigungen. Man ging in die Gewerkschaft, wählte sozialdemokratische Parteien. Zuvor war man in diesen Vorfeldorganisationen tätig und wurde in denen auch sozialisiert, beispielsweise in den Jugendvereinigungen der Parteien.

Das hat sich stark verändert …

… ja, im Zuge des gesellschaftlichen Wandels, mit dem Trend zur Individualisierung, den Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg, wie wir ihn ab den 50er-, 60er-Jahren hatten, brachen diese Milieus auf. Junge Menschen sind auch heute politisch interessiert und engagiert. Nur sind sie bei Weitem nicht mehr so stark wie früher in solche Milieustrukturen verankert, die wiederum mit bestimmten politischen Parteien verbunden sind.

Portraitfoto Marc Debus

© Universität Mannheim

Über Marc Debus:

Prof. Dr. Marc Debus ist Politikwissenschaftler und Professor für Politikwissenschaft und Vergleichende Regierungslehre an der Universität Mannheim. Der Schwerpunkt seiner Forschung und Lehre liegt in der vergleichenden Sicht politischer Systeme, insbesondere in den Bereichen Koalitionstheorien, politische Parteien und Parteienwettbewerb, politische Institutionen, Gesetzgebung sowie Wahl- und Demokratieforschung. Debus lebt in Mannheim, ist verheiratet und hat eine kleine Tochter.

(loh)

mitmischen-Autorin

Laura Heyer

hat in Heidelberg Geschichte studiert, in Berlin eine Ausbildung zur Journalistin gemacht und ist dann für ihre erste Stelle als Redakteurin nach Hamburg gegangen. Dort knüpft sie nun Netzwerke für Frauen. Aber egal wo sie wohnt – sie kennt immer die besten Plätze zum Frühstücken.

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