Blog Tag 1 Ein langer Leidensweg
Morgen beginnt die diesjährige Jugendbegegnung des Bundestages. Zusammen mit 60 anderen jungen Menschen wird Denise sich mit der Verfolgung homosexueller Menschen durch die Nationalsozialisten beschäftigen.
„Totgeschlagen, Totgeschwiegen – Den homosexuellen Opfern des Nationalsozialismus“ steht auf der dreieckigen Gedenktafel „rosa Winkel“ gleich neben dem Eingang zur U-Bahnstation Nollendorfplatz in Berlin-Schöneberg. Dort, wo sich in den 1920er Jahren schwule, lesbische und transsexuelle Menschen in Theatern und Nachtclubs amüsierten, erinnert die Plakette daran, dass all dies mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 schlagartig zum Erliegen kam. Lokale mussten schließen, Verbände und Zeitungen der Homosexuellenbewegung wurden verboten, ihre Anhänger verfolgt, verhaftet und ermordet.
Bis heute gibt es nur wenige Denkmäler, die an Menschen erinnern, die im Dritten Reich wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden. Schätzungsweise 50.000 homosexuelle Männer wurden während des Nationalsozialismus zu Freiheitsstrafen verurteilt, 10.000 bis 15.000 in Konzentrationslager eingesperrt. Dort wurden sie mit dem sogenannten „rosa Winkel“ an ihrer Häftlingskleidung versehen. Es sollte für alle – Mithäftlinge wie Aufseher – deutlich werden, weshalb sie in das Konzentrationslager gebracht wurden. Homosexuelle Gefangene mussten besonders schwere Arbeit leisten, waren Schikanen ausgesetzt. Rund die Hälfte starb in den KZs. Zwar haben die Nationalsozialisten auch lesbische Frauen verfolgt und eingesperrt, doch da diese nicht kategorisch erfasst wurden, ist heute nicht mehr nachzuverfolgen, wie viele dem nationalsozialistischen Wahn zum Opfer fielen.
Ihnen allen wird der Deutsche Bundestag schwerpunktmäßig seine diesjährige Gedenkstunde zum 27. Januar widmen. Jedes Jahr wird an diesem Tag der Opfer des Holocausts gedacht. Das Datum ist nicht zufällig gewählt: Am 27. Januar 1945 befreiten die Alliierten das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im heutigen Polen. Mehr als eine Millionen Menschen sind alleine dort ermordet worden – die meisten von ihnen Jüdinnen und Juden. Insgesamt wurden während des Zweiten Weltkriegs von 1939 bis 1945 sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet.
Jugendbegegnung 2023 zum Thema „Homosexuellenverfolgung“
Nicht nur die Gedenkstunde, sondern auch die diesjährige Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages wird sich mit dem Thema „Homosexuellenverfolgung im Nationalsozialismus“ beschäftigen. Erstmals seit Beginn der Pandemie wird die Jugendbegegnung wieder in der Woche vom 27. Januar stattfinden. Rund 60 junge Erwachsene zwischen 17 und 25 Jahren werden morgen in Berlin eintreffen und sich dreieinhalb Tage intensiv mit dem Thema auseinandersetzen. Auf die Teilnehmenden wartet dabei ein volles und spannendes Programm. So werden sie unter anderem die Gedenkstätte im ehemaligen Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück besuchen, mit Zeitzeugen sprechen und am Freitag bei der Gedenkstunde mit im Plenarsaal des Deutschen Bundestages sitzen.
Auch ich, Denise, werde dabei sein und euch auf diesem Blog in den nächsten vier Tagen davon berichten, was wir erleben, welche Gedanken uns durch den Kopf geistern und welche Eindrücke wir sammeln können. Doch bevor es morgen richtig losgeht, heißt es erstmal Lesen, Lesen, Lesen.
Denn ich muss gestehen, dass auch ich bisher wenig über die Homosexuellenverfolgung im Dritten Reich wusste. Das Erste, was mir während meiner Recherche auffällt, ist, dass es kaum Zeitzeugenberichte gibt. Dies mag vor allem daran liegen, dass der Leidensweg vieler queerer Verfolgten mit dem Ende des Krieges nicht vorbei war.
Paragraph §175 – Verfolgung auch noch nach Kriegsende
Denn im Gegensatz zu vielen anderen Gesetzen wurde der Paragraph §175, der die Homosexuellenverfolgung im Dritten Reich ermöglichte, nach Ende des Krieges nicht außer Kraft gesetzt. Bis 1969 wendeten Gerichte das Gesetz genauso an, wie es von den Nationalsozialisten formuliert wurde. Angehörige sexueller Minderheiten konnten sich also auch nach Kriegsende vorerst nicht frei entfalten. Homosexuellen Männern drohte immer noch Gefängnis, wollten sie ihre sexuelle Orientierung ausleben. Die mögliche soziale Ausgrenzung hat wohl viele daran gehindert, über das Erlebte zu sprechen, den Grund für ihre Verfolgung offen zu benennen. Erst 1994 wurde der Paragraph schließlich ganz abgeschafft.
Es dauerte Jahrzehnte bis queere Menschen als Opfergruppe des Zweiten Weltkriegs anerkannt wurden – viele Inhaftierte haben diesen Moment nicht mehr erlebt. Wie die Gedenkplatte am Nollendorfplatz deutlich macht: Die Inhaftierten wurden nicht nur totgeschlagen, sondern ihre Schicksal und das der Überlebenden totgeschwiegen. Welches Wissen können wir heute noch über Verfolgte erlangen? Wie konnten Gesellschaft und Forschung diese Opfergruppe so lange ignorieren? Wie kann Erinnerungskultur offener gestaltet werden?
Ich gehe mit vielen Fragen in die Jugendbegegnung und bin gespannt, welche Antworten wir finden werden.
(Denise Schwarz)
Das war die Jugendbegegnung 2022: