Historiker-Interview „Es war der größte Krieg der Geschichte“
Vor 80 Jahren griff Deutschland die damalige Sowjetunion an. Wie es heute um die Aufarbeitung der Geschehnisse steht und warum jeder auch in seiner Familie nach der eigenen Geschichte suchen sollte, erklärt Historiker Dieter Pohl im Interview.
Herr Pohl, Geschichte ist nicht unbedingt das Lieblingsfach aller Schülerinnen und Schüler. Warum ist es trotzdem gut, etwas über die deutsche Geschichte zu wissen?
Geschichte ist jedermanns und jederfraus Sache. Man braucht sie, um die Gegenwart zu begreifen. Wir können beispielsweise das heutige Europa nicht verstehen, wenn wir uns nicht mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen. Die Grenzen, aber auch das nationale Selbstverständnis in vielen Ländern sind stark durch die Vergangenheit geprägt.
Man sollte sich nicht nur mit der deutschen Geschichte befassen. Das Thema Zweiter Weltkrieg zeigt ja schon: Man muss sich auch mit der europäischen Geschichte und der Weltgeschichte beschäftigen. Das ist heutzutage unabdingbar.
Fast genau vor 80 Jahren griff Deutschland die Sowjetunion an, ein inzwischen zerfallener Staat, zu dem Russland gehörte. Es war der Beginn eines grausamen Vernichtungskriegs mit Millionen Opfern. Was unterscheidet diesen Krieg von anderen Kriegen?
Wie Sie schon sagen: Der deutsch-sowjetische Krieg war ein Vernichtungskrieg mit Millionen Opfern. Und, er war von der deutschen Seite als solcher geplant. Das war etwas ganz Neues. Das heißt, man hat von vornherein gesagt, dass bestimmte Gruppen unter der Bevölkerung und den Kriegsgefangenen im Laufe des Krieges zu töten seien. Sowohl aus ideologischen Gründen, aber auch, weil man dachte, dass die Sowjetunion schneller zusammenbrechen würde, wenn man bestimmte Teile der Bevölkerung beziehungsweise der Kriegsgefangenen umbringen würde.
Darüber hinaus gibt es zwei weitere Punkte: Der deutsch-sowjetische Krieg ist der größte Krieg der Geschichte und der mit den meisten Opfern. Auf deutscher Seite sind etwa drei Millionen Soldaten gefallen, auf sowjetischer schätzungsweise 11 Millionen. Zudem war er die Voraussetzung dafür, dass sich der Kommunismus in Europa und später in Asien ausbreiten konnte. Man könnte sagen: Ohne den deutsch-sowjetischen Krieg keine kommunistische Herrschaft in China.
Raten Sie jungen Menschen dazu, die eigenen Großeltern oder andere Verwandte einmal über diese Zeit zu befragen, die sie vielleicht noch als Kinder miterlebt haben?
Grundsätzlich rate ich jungen Menschen, ihre Verwandten über die Geschichte zu befragen. Allerdings ist der deutsch-sowjetische Krieg 75 bis 80 Jahre her. Das heißt, man wird fast niemanden mehr finden, der ihn live miterlebt hat. Stattdessen kann man eher nach den Folgen des Kriegs fragen. Die Rückkehr eines Verwandten aus der Kriegsgefangenschaft beispielsweise ist ein Erlebnis, das in der Familiengeschichte hängengeblieben ist.
Was bedeutete die deutsche Militärbesatzung für die Bevölkerung der Sowjetunion?
Zunächst ist zu sagen, dass die Sowjetunion nicht nur vom Militär besetzt worden ist. Die Wehrmacht hat nur etwa die Hälfte der eroberten Gebiete verwaltet, die andere Hälfte wurde von einer Zivilverwaltung beherrscht.
Für die jüdische Bevölkerung bedeutete die Besatzung die Totalvernichtung, also der Versuch der Besatzungsherrschaft, jeden Juden, jede Jüdin und auch jedes jüdische Kind umzubringen.
Und für die nichtjüdische?
Bei der nichtjüdischen Bevölkerung muss man etwas unterscheiden: Es gab Gruppen wie zum Beispiel die sowjetischen Roma, im damaligen Sprachgebrauch Zigeuner genannt, oder Psychiatriepatienten, die ebenfalls von Vernichtung bedroht waren.
Außerdem gab es große regionale Unterschiede: Sehr viele Massaker an nichtjüdischen Zivilisten gab es in Gebieten mit Partisanen, das waren Angehörige des organisierten Widerstands. Dort, wo es keine Partisanen gab, waren Massaker an nichtjüdischer Bevölkerung seltener. Und, man muss unterscheiden, ob es sich um ein Hungergebiet handelte. Denn es gab Gebiete in der besetzten Sowjetunion, die die deutsche Besatzungsherrschaft regelrecht ausgehungert hat. Die Menschen dort waren natürlich auch ganz massiv betroffen.
Sie erforschen die Massenverbrechen und die Besatzungspolitik in Osteuropa und haben sich intensiv mit den deutschen Tätern beschäftigt. Was weiß man heute über die Täter?
Eine Täterforschung gibt es seit etwa 30 bis 40 Jahren. Wir kennen die Tätergruppen und die Spitzenfunktionäre heute sehr gut. Allerdings muss man davon ausgehen, dass bei den Massenverbrechen wahrscheinlich Hundertausende von Deutschen beteiligt waren, dazu Verbündete des Deutschen Reichs wie rumänische, ungarische und italienische Besatzer. Über die wissen wir sehr wenig. Das liegt vor allem daran, dass es sehr schwierig ist, Quellenmaterial über die einzelnen Verbrechen zu finden, anhand dessen man die Verantwortlichen identifizieren kann.
Insgesamt kann man sagen, dass die meisten Täter der Massenverbrechen davon gekommen sind. Meiner Schätzung nach sind weniger als fünf Prozent vor Gericht gelandet.
Wie steht es aus Ihrer Sicht um die Aufarbeitung der Verbrechen der Nationalsozialisten in Osteuropa?
Osteuropa ist als Tatort der nationalsozialistischen Verbrechen erst sehr spät untersucht worden. In bestimmten Bereichen wissen wir mittlerweile aber ganz gut Bescheid. Besonders bei den Verbrechen an den Juden in Osteuropa. Wobei es auch da regionale Unterschiede gibt: Die Forschung für das Baltikum gilt zum Beispiel als fortgeschritten. Relativ schlecht sieht es hingegen für die Ukraine aus, obwohl es auch dort sehr viele Opfer gegeben hat.
Außerdem muss man nach Opfergruppen unterscheiden: Über den Holocaust wissen wir etwas mehr. Über die Verbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen, den Roma und Psychiatriepatienten weniger. Das gilt auch für die Opfer des Anti-Partisanenkriegs.
Und wie kann eine zeitgemäße Erinnerungskultur aussehen?
Es ist wichtig, alle Opfer in den Blick zu nehmen. Wir sollten nicht nur an den Holocaust, den Massenmord an den Juden, erinnern. Sondern auch an die gesamte deutsche Besatzungs- und Vernichtungspolitik insbesondere in Osteuropa.
Und, wir müssen die Erinnerungskultur meines Erachtens stärker mit der gegenwärtigen Menschenrechtslage verknüpfen: Gibt es heutzutage massenhaftes Unrecht? Das sind Punkte, die man stärker in den Blick rücken sollte.
Mehr zu Prof. Dr. Dieter Pohl
Prof. Dr. Dieter Pohl ist Historiker und leitet seit September 2010 den Lehrstuhl für Zeitgeschichte mit besonderer Berücksichtigung Ost- und Südosteuropas an der Universität Klagenfurt. Seine Forschungsschwerpuntke sind unter anderem die Geschichte der Sowjetunion und die Nationalsozialistische Besatzungsherrschaft und Gewaltverbrechen.