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Kinder- und Jugendarzt „Cannabis-Konsum kann Zeitbombe sein“

Viele Kinder- und Jugendärzte sind gegen eine Cannabis-Legalisierung. „Kiffen kann sehr ernsthafte Folgen haben“, sagt auch Mediziner Oliver Harney. Warum er trotzdem für die Legalisierung ist.

Die Legalisierung von Cannabis würde den „Reiz des Verbotenen“ für junge Leute nehmen, vermutet Kinder- und Jugendarzt Oliver Harney. Trotzdem sieht er das Vorhaben mit gemischten Gefühlen. © privat

Die Ampelkoalition hat kürzlich Ihre Pläne zur Cannabis-Legalisierung vorgestellt. Viele Kinder- und Jugendärzte kritisieren das Vorhaben. Warum?

Für uns Mediziner geht es in dem Zusammenhang zunächst einmal weniger um Fragen rund um die Kriminalisierung oder Entkriminalisierung von Cannabis. Wir haben vor allem den Schutz der Patienten im Blick. Denn die Kinder- und Jugendärzte befürchten, dass Jugendliche durch die Legalisierung noch früher beginnen könnten, Cannabis zu konsumieren. Natürlich weiß man nicht, ob das so sein würde. In einigen Ländern, in denen Cannabis legalisiert oder entkriminalisiert ist – wie Kanada oder in den Niederlanden – hat sich diese Annahme nicht bestätigt.

Aber sowohl die Kinder- und Jugendärzte als auch Psychiater und Psychologen machen sich Sorgen im Hinblick auf den Jugendschutz. Von beiden Berufsverbänden gibt es dazu offizielle Stellungnahmen. Ein Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass Cannabis-Konsum für Jugendlichen ganz andere Folgen als für Erwachsene hat.

Welchen Folgen sind das?

Man geht davon aus, dass sich die sogenannten neuronalen Strukturen – also die Verknüpfungen im Gehirn – bis zum 24. oder 25. Lebensjahr noch im Aufbau befinden. Da geht es etwa um Areale, die mit Vernunft, mit der Wahrnehmung und dem Denken zu tun haben.

Man hat festgestellt, dass der frühe Einstieg in den Cannabis-Konsum, also zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr oder sogar noch früher, irreversible Schäden am Gehirn verursachen kann. Das kann später dazu führen, dass man vielleicht Schwierigkeiten hat, sich zu konzentrieren – oder es kann sogar ein Auslöser für psychische Störungen sein.

Es gibt Zahlen, die nahelegen, dass verfrühter Cannabis-Konsum zum Beispiel das Risiko für bipolare Störungen um das Dreifache erhöht. Die bipolare Störung ist eine Erkrankung, bei der sich depressive Phasen und sogenannte manische Phasen, also Phasen in denen der Patient besonders heiter oder erregt ist, abwechseln.

Hängen diese Risiken davon ab, wie man Cannabis konsumiert?

Indirekt schon. Mit Blick auf die Risiken muss man zwischen dem angebauten und dem synthetischen Cannabis unterscheiden. Künstlich hergestellte Cannabinoide – so nennt man die Stoffgruppe – sind deutlich wirksamer und bringen deshalb auch ein erhöhtes Risiko für psychische Störungen mit. Synthetische Cannabinoide gibt es zum Beispiel in Tablettenform oder in sogenannten „Edibles“, also beispielsweise in Cookies. Oft weiß man hier nicht, was für ein Produkt man vor sich hat. Wenn man Pech hat, ist in so einem Cookie synthetisiertes Cannabis verwendet worden.

Dazu kommt, dass der THC-Gehalt in synthetischem Cannabis des Schwarzmarktes ebenfalls über die letzten Jahre deutlich angestiegen ist.

Im Zusammenhang mit Cannabis-Konsum wird immer wieder auch von Psychosen gesprochen. Wieso?

Cannabis-Konsum erhöht das Risiko dafür, dass eine Psychose auftreten kann. So eine Psychose kann ganz akut ausgelöst werden, aber es ist auch möglich, dass sie erst auftritt, wenn die Person schon lange kein Cannabis mehr konsumiert. In einigen Fällen kann der Konsum also wie eine Zeitbombe sein, von der man nichts weiß.

Das ist natürlich nicht immer der Fall und bei Psychosen spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: Cannabis allein löst keine Psychose aus. In der Regel hat jemand bereits eine genetische Veranlagung für psychische Erkrankungen und Cannabis kann ein Trigger sein.

Eine Forderung des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte ist eine gestaffelte THC-Obergrenze bis zu einem Alter von 21 Jahren. Inwiefern würde das Jugendliche und junge Erwachsene schützen?

Eine THC-Obergrenze bedeutet, dass der Anteil des THC in bestimmten Produkten eingeschränkt würde.

Wenn man davon ausgeht, dass der THC-Gehalt für die Suchtentwicklung und wahrscheinlich auch für die gesundheitliche Schädigung verantwortlich ist, dann ist das nur konsequent. Ich finde, man muss fordern, dass Cannabis an Menschen zwischen 18 und 25 Jahren nur mit niedrigerem THC-Gehalt abgegeben werden darf. Die Mediziner wünschen sich das als Kompromisslösung. Im Eckpunktepapier der Bundesregierung steht dazu bisher aber nur, dass man die Idee prüfen wolle.

Manche Menschen behaupten, dass Cannabis nicht süchtig mache. Stimmt das?

Der Begriff „Sucht“ ist vielleicht für viele mit einer bestimmten Vorstellung assoziiert: Man denkt beispielsweise an den Drogensüchtigen unter der Brücke. Aber süchtig zu sein, geht über eine körperliche Abhängigkeit hinaus. Es gibt immer auch eine psychische Sucht.

Es ist richtig, dass die körperliche Abhängigkeit von Cannabis im Vergleich zu anderen Drogen sehr niedrig ist. Man geht davon aus, dass Cannabis in fünf bis neun Prozent der Fälle zu einer Abhängigkeit führt. Bei Nikotin liegt die Abhängigkeit bei 68 Prozent, bei Alkohol bei 24 Prozent.

Wer täglich Cannabis konsumiert, hat ein höheres Risiko, davon abhängig zu werden: Da liegt das Risiko schon bei 50 Prozent. Auch hier wieder: Abhängig vom THC-Gehalt und davon, ob das Cannabis gegessen oder geraucht wird.

Soweit zur körperlichen Abhängigkeit. Das eigentliche Problem ist aber die seelische und psychische Abhängigkeit. Viele nutzen Cannabis um „runterzukommen“ oder im Umgang mit schwierigen Situationen. Wir alle müssen Strategien erlernen, mit Stress und negativen Gefühlen umzugehen: zum Beispiel, indem wir Sport machen, Musik hören, tanzen. Wenn aber solche Situationen immer mit kiffen geregelt werden, ist das eine Sucht.

Eine weit verbreitete Auffassung: Jugendliche würden Cannabis unabhängig davon konsumieren, ob es legal ist oder nicht. Wie schätzen Sie dieses Argument ein?

Ich glaube auch, dass Jugendliche Cannabis ausprobieren werden – egal, ob es legal ist oder nicht. Das Kiffen gehört – genauso wie der Alkohol und der Tabak – für viele Jugendliche zur „Coolness“ dazu. Erwachsene machen das und Jugendliche möchten es ausprobieren. Im Jugendalter wird das Erwachsensein imitiert.

Die Legalisierung könnte aber dazu führe, dass Cannabis gesellschaftlich viel akzeptierter würde. Das ist ein Argument, das gegen die Legalisierung angebracht wird. Wie sehen Sie das?

Ich denke schon, dass Cannabis-Konsum etwas selbstverständlicher würde, weil es leichter sein wird, Cannabis zu bekommen. Gleichzeitig wird der Reiz des Verbotenen für die jungen Leute wegfallen.

Ich persönlich bin pro Legalisierung, denn ich finde, dass die Kriminalisierung von Cannabis einen Schaden für Jugendliche anrichten kann, der für viele nicht absehbar ist. Wer sich im Zusammenhang mit Cannabis strafbar macht, bekommt teilweise harte Konsequenzen zu spüren. Der muss vielleicht Arbeitsstunden leisten oder darf keinen Führerschein machen. Manchmal geht es um Fälle, in denen jemand mit zwei Gramm Cannabis erwischt wurde, das finde ich etwas unverhältnismäßig. Insbesondere weil eine ähnliche Situation im Zusammenhang mit Alkohol nicht strafbar wäre.

Über Oliver Harney

Oliver Harney ist in Süddeutschland geboren. Nach der Schule studierte er Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Seit zwei Jahrzehnten arbeitet er als Kinder- und Jugendarzt in seiner eigenen Praxis. Neben seiner Tätigkeit als Arzt ist Harney unter kinderdok.blog als Blogger tätig und er ist außerdem Buch-Autor sowie Kolumnist beim Berliner Tagesspiegel. 

(Mira Knauf)