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Jessica Tatti (Die Linke) „Mehr Arbeitslose nachqualifizieren“

Man müsse mehr arbeitslose Menschen in Deutschland nachqualifizieren, sagt Jessica Tatti von der Linksfraktion. Diese Maßnahme spiele keine ausreichende Rolle in der Fachkräftestrategie der Bundesregierung.

Porträt von Jessica Tatti

„Wir müssen die Kinderbetreuung auf die Reihe kriegen“, sagt Jessica Tatti (Die Linke). Nur so könnten junge Eltern erwerbstätig sein. © Jessica Tatti

Die Bundesregierung hat ihre Fachkräftestrategie veröffentlicht – wie beurteilen Sie die angestrebten Maßnahmen?

Diese Strategiepapiere – die es zu verschiedenen Themen gibt – beschreiben zunächst die aktuelle Situation. Das machen sie oft gut und ausgewogen. Entscheidend ist aber, was aus diesen Erkenntnissen folgt. Welche Gesetzesinitiativen gibt es? Und welche Beschlüsse folgen?

Die Fachkräftestrategie hat Schlagseite. Sie konzentriert sich sehr auf Fachkräftezuwanderung aus dem Ausland. Die Ausbildung und Qualifizierung von den Menschen, die derzeit erwerbslos in Deutschland leben, spielt keine ausreichende Rolle.

Natürlich muss man abwarten, welche Gesetzesinitiativen noch kommen. Bisher gibt es das Chancen-Aufenthaltsgesetz, das geduldeten Ausländern ermöglichen soll, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen und hier zu arbeiten. Zudem liegt das Weiterbildungsgesetz im Entwurf vor. Mit dem Gesetz könnte es künftig möglich sein, dass Beschäftigte ein Jahr lang eine Weiterbildung machen und zumindest einen Teil ihres Lohns weiterbeziehen.

Das sind gute Ansätze. Mir ist in jedem Fall wichtig, dass die Personengruppen, die heute am Arbeitsmarkt benachteiligt sind, eine deutlich größere Rolle spielen, als das bisher der Fall war.

Wie könnte das gehen?

Ich finde zum Beispiel, dass viel mehr Arbeitslose zu Fachkräften nachqualifiziert werden müssen. Leider gab es zuletzt im Bereich der Weiterbildung von Erwerbslosen massive Kürzungen. Das ist der falsche Weg.

Menschen, die heute keinen Job haben, brauchen eine Perspektive am Arbeitsmarkt. Und man muss dafür sorgen, dass Menschen, die im Niedriglohnbereich arbeiten, die Möglichkeit auf einen guten Job bekommen. Auch für Frauen, die aufgrund von fehlender Kinderbetreuung nur in Teilzeit arbeiten können, muss sich etwas ändern.

Meine Sorge ist es, dass man zu einseitig auf die Fachkräftezuwanderung setzt, also fertig ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland nach Deutschland holt. So müssen sich die Unternehmen hier nicht mehr um die Kosten der Ausbildung kümmern. Das ist natürlich für die Wirtschaft attraktiv. Die Politik muss aber dafür sorgen, dass die Unternehmen selbst genug Fachkräfte ausbilden.

In welchen Bereichen wird der Fachkräftemangel in Zukunft besonders problematisch?

Wir sehen bereits, dass in vielen relevanten Berufen Fachkräfte fehlen. Das sind Berufe, auf die wir nicht verzichten können wie Pflege- oder Erziehungsberufe. Hier treffen sogar zwei der großen Probleme aufeinander: Fehlende Erzieherinnen und Erzieher führen wiederum dazu, dass viele Frauen nicht oder nur in Teilzeit arbeiten können, obwohl sie vielleicht gerne mehr arbeiten würden. Diese Frauen fehlen dann am Arbeitsmarkt.

Wir sehen den Fachkräftemangel aber auch in Bereichen wie Bau, Service, Gastronomie, oder in der Hotelbranche. In diesen Bereichen sind meist die Löhne niedrig und die Arbeitszeiten schlecht.

Normalerweise ist es in der Marktwirtschaft so: Wenn zu wenig Menschen bereit sind, in bestimmten Branchen zu arbeiten, steigen die Löhne, um Fachkräfte anzuziehen. Aber das passiert gerade nicht. Man jammert über den Fachkräftemangel, ist aber nicht bereit, etwas an den Löhnen oder Arbeitsbedingungen zu ändern.

Dabei wäre es doch richtig, die Arbeitsbedingungen so zu verbessern, dass die Berufe wieder attraktiver werden. Gerade in der Pflege muss das geschehen. Fest steht: Hier können wir mit diesem Fachkräftemangel nicht einfach weitermachen. Das ist verantwortungslos gegenüber den Pflegekräften und den Menschen, die in Krankenhäusern oder Heimen gepflegt werden.

Die Strategie will zur „Gleichstellung von Frauen und Männern beitragen“ und eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen erzielen. Welche Rolle können Frauen Ihrer Meinung nach bei der Bewältigung des Fachkräftemangels spielen?

Wir haben viele gut ausgebildete Frauen im Land und viele davon bekommen Kinder, die betreut werden müssen. Wenn die Kinderbetreuung nicht gewährleistet ist, arbeiten diese weiblichen Fachkräfte nur in Teilzeit. Das ist eine Stellschraube, an der man dringend etwas machen muss. Wir brauchen berufsfreundliche Öffnungszeiten der Kitas. Und das ist nicht nur ein Frauenproblem. Eltern sollten erwerbstätig sein können, so wie sie sich das wünschen. Wenn das nicht möglich ist, gehen viele Fachkräfte teilweise oder ganz verloren. Wir müssen die Kinderbetreuung auf die Reihe kriegen.

In der Strategie der Bundesregierung steht, dass die „Sicherung von Fachkräften zuvorderst eine Aufgabe der Unternehmen“ ist. Welche Aufgabe sollte die Politik erfüllen?

Dem stimme ich ausdrücklich zu. Unternehmen brauchen Fachkräfte und müssen deshalb dafür sorgen, dass sie so viele Arbeitskräfte ausbilden, wie sie benötigen. Dazu gehört auch, dass sie attraktive Arbeitsbedingungen bieten, um diese Fachkräfte an sich zu binden.

Trotzdem haben wir gesamtgesellschaftliche Aufgaben, für die Politik Verantwortung übernehmen muss. Das betrifft zum Beispiel den demografischen Wandel, die Dekarbonisierung, die Digitalisierung. Der Arbeitsmarkt und viele Tätigkeiten verändern sich und darauf muss die Politik reagieren, zum Beispiel indem sie – wie schon angesprochen – die Aus- und Weiterbildung von Arbeitslosen und Beschäftigten im Niedriglohnsektor fördert.

Zur Person

Jessica Tatti

Jessica Tatti wurde 1981 in Marbach am Neckar geboren. Nach der Schule studierte sie Soziale Arbeit in Ludwigsburg und arbeitete anschließend als Sozialarbeiterin. Seit 2017 ist sie Mitglied des Deutschen Bundestages und arbeitet für ihre Fraktion im Ausschuss für Arbeit und Soziales.

Mehr erfahrt ihr auf ihrem Profil auf bundestag.de.

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