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Nina Stahr (Grüne) „Bildung steht und fällt mit Personal“

Schule müsse sich noch viel mehr an die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen anpassen, findet Nina Stahr von der Fraktion der Grünen. Dazu brauche es vor allem gutes Personal, erklärt sie im Interview.

Porträt von Nina Stahr

Das Schulsystem sei zu sehr darauf ausgelegt, dass Eltern zu Hause unterstützen könnten, kritisiert Nina Stahr (Bündnis 90/Die Grünen). © Sonja Macholl Fotografie/Focoloco

Der Deutsche Bundestag hat den nationalen Bildungsbericht beraten. Alle zwei Jahre liefert dieser Daten und Fakten aus verschiedenen Bildungsbereichen. Worum geht es im aktuellen Bericht?

Für mich waren zwei Punkte in dem Bericht besonders wichtig. Zum einen wurde noch einmal sehr deutlich, dass wir zu wenige Fachkräfte im Bildungsbereich haben. Und wenn wir gute Bildung gewährleisten wollen, hängt die natürlich an den Fachkräften. Denn es braucht gutes Personal, um die Kinder und Jugendlichen entsprechend unterstützen zu können.

Das führt mich zum zweiten Punkt: Gute Fachkräfte sind besonders dann relevant, wenn Kinder und Jugendliche aus Familien kommen, in denen die Eltern aus verschiedensten Gründen nicht so sehr beim Bildungserfolg unterstützen können – sei es, weil die Eltern die Sprache nicht sprechen oder weil sie selbst nicht den entsprechenden Bildungsstand haben, um ihren Kindern beispielsweise bei den Hausaufgaben helfen zu können.

Wenn diese Kinder auch in der Schule keine ausreichende Unterstützung finden, folgt daraus, dass Kinder, die zu Hause keine Unterstützung bekommen, generell schlechtere Chancen im Leben haben. Das finde ich sehr dramatisch, denn wir als Staat sind verpflichtet, allen Kindern dieselben Chancen zu bieten.

Dass sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche seltener das Gymnasium besuchen und später seltener studieren, ist keine neue Erkenntnis: Warum ist es so schwer, dieser Ungleichheit entgegenzuwirken?

Um dem entgegenzuwirken, müssen wir erstmal genauer verstehen, wie es zu diesen Ungleichheiten kommt. Ich habe es gerade schon angeschnitten: Ich glaube, in der Schule herrschen noch nicht die richtigen Voraussetzungen, um die Kinder und Jugendlichen so zu begleiten, wie sie es brauchen. Unser Schulsystem ist darauf ausgelegt, dass Eltern zu Hause unterstützen können.

Das System ließe sich verändern, wenn wir akzeptieren, dass die Schule eine viel breitere Verantwortung hat, als nur zu unterrichten, was im Lehrplan steht. Es geht ganz grundsätzlich darum, was aus den Kindern und Jugendlichen wird.

Das bedeutet beispielsweise, dass wir in der Ganztagsschule Verantwortung in der Form übernehmen, dass wir eine qualitativ hochwertige Hausaufgabenbetreuung anbieten. Und dass wir dafür sorgen, dass Kindern und Jugendlichen der Zugang zu Sport und zu Musikunterricht ermöglicht wird. Diese Dinge liegen momentan in der Verantwortung der Familien und dort, wo Familien dieser Verantwortungen nicht nachkommen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Deswegen finde ich, dass die Ganztagsschule die richtigen Angebote schaffen muss.

Das heißt, es sollte in der Ganztagsschule nicht nur um Hausaufgabenbetreuung und Lernen im strengen Sinne gehen?

Meiner Meinung nach müssen wir Bildung generell breiter denken. Es geht nicht darum, oben Wissen hineinzukippen und zu warten, dass unten der gebildete Mensch herauskommt. Es sollen auch soziale Kompetenzen erlernt werden. Außerdem müssen wir uns fragen, welche Kompetenzen heutzutage noch vermittelt werden sollten – besonders in Bezug auf Themen wie Digitalisierung und Künstliche Intelligenz.

Sie sind selbst Lehrerin: Welche Erkenntnisse aus dem Bericht finden Sie besonders relevant?

Mich beschäftigt noch ein anderer Aspekt am Fachkräftemangel: Zu wenig Personal wirkt sich auch negativ auf die Lehrkräfte aus, die es gibt. Wir haben viele sehr motivierte Lehrkräfte, die aber durch die Art und Weise, wie es im Moment in den Schulen zugeht, schnell Spaß und Motivation an ihrem Beruf verlieren. Das habe ich auch persönlich bei vielen Kolleginnen und Kollegen erlebt.

Wir müssen den existierenden Lehrkräften ermöglichen, ihren Job so zu machen, dass sie am Ende des Tages sagen können: „Ich bin meinen eigenen Ansprüchen gerecht geworden“. Gute Bildung steht und fällt mit dem Personal.

Das gilt im Übrigen natürlich auch für andere Bereiche wie die Kindertagesstätten. Ich spreche oft mit Erziehern und Erzieherinnen, die mir erzählen, dass sie den ganzen Tag hin und her rennen, weil die zweite Fachkraft fehlt. Und Bildung in den Kitas kommt an diesen Tagen zu kurz, das macht unzufrieden. Wir müssen unbedingt etwas tun, damit diese Menschen die Zufriedenheit im Job zurückgewinnen und nicht irgendwann abwandern.

Ein Thema im Bericht: Weniger junge Menschen machen eine Berufsausbildung, besonders wenige ein duales Studium. Warum ist das so?

Wir haben in der Vergangenheit zu häufig das Bild vermittelt, dass das Abitur der Schulabschluss ist, auf den alle hinarbeiten müssen. Wenn dann ein Studium folgt, stehen einem alle Türen offen.

Wir müssen wieder vermitteln, dass nicht jeder zwangsläufig Abitur machen muss. Natürlich ist es wichtig, dass jeder die Chance bekommt, diesen Schulabschluss anzustreben, aber wer vor der Entscheidung steht – mittlere Reife und Ausbildung oder Abi und Studium – muss diese Entscheidung frei treffen können, weil beide Wege gleichviel wert sind.

Dafür ist es auch wichtig, dass wir die Möglichkeiten für diejenigen mit einer Ausbildung im späteren Berufsleben verbessern. Denn nach wie vor ist es so, dass in den Stellenausschreibungen für die Beamtenlaufbahn, im öffentlichen Dienst oder in der freien Wirtschaft in vielen Fällen ein Hochschulstudium gefordert wird. Die Berufserfahrung, die jemand mitbringt, ist zweitrangig. Auch beim Thema Bezahlung gerät man schnell an eine Grenze, wenn man kein Studium vorzuweisen hat. Das müssen wir meines Erachtens dringend ändern, wenn wir wollen, dass wieder mehr Menschen eine Ausbildung machen.

Außerdem müssen wir die Ausbildungsberufe selbst wieder attraktiver gestalten. Wir müssen natürlich dafür sorgen, dass die Ausbildung im Bildungsbereich, etwa zum Erzieher oder zur Erzieherin, interessant bleibt. Das ist sie nicht, wenn ich dafür sogar Schulgeld bezahlen muss, wie es in einigen Bundesländern der Fall ist. Solche Ausbildungen müssen unbedingt überall schulgeldfrei sein. Und wir arbeiten darauf hin, dass sie auch vergütet werden. Denn nur so bleiben sie im Vergleich zu anderen Ausbildungsberufen konkurrenzfähig.

Zur Person

Nina Stahr

Nina Stahr wurde 1982 in Frankfurt am Main geboren. Nach der Schule studierte sie Englisch und Geschichte auf Lehramt in Frankfurt, arbeitete zwischenzeitlich als Assistant Teacher in England und setze anschließend das Lehramtstudium in Berlin fort. Seit 2006 ist Stahr Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen und seit 2016 Vorsitzende Bündnis 90/Die Grünen Berlin, seit 2021 Mitglied im Deutschen Bundestag.

Mehr erfahrt ihr auf ihrem Profil auf bundestag.de.

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