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Politische Bildung „Junge Leute glauben nicht jeden Mist“

Wie begeistert man junge Menschen für Demokratie? Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, erklärt, wie er Social Media nutzt und mit Influencern zusammenarbeitet.

Thomas Krüger am Checkpoint Charly in Berlin

„Es gibt immer das Vorurteil, dass Jugendliche mit Bildungsbenachteiligung weniger politisch sind. Das ist ein fataler Irrtum“, sagt Thomas Krüger. © Jordis Antonia Schlösser/bpb

Fast die Hälfte der Jugendlichen ist unzufrieden damit, wie Demokratie in Deutschland funktioniert. Wie begeistert man junge Menschen für Demokratie? Wie motiviert man sie, sich einzubringen?

Erst mal muss man akzeptieren, dass junge Menschen komplett unterschiedlich sind – wie Erwachsene auch. Von daher gibt es keinen Königsweg. Bei manchen reicht ein kleiner Schubser, ein Buch, eine Veranstaltung, ein Web-Video, um sie zur Teilhabe zu bewegen. Bei anderen müssen wir einen größeren Aufwand betreiben und mit Formaten experimentieren, um Interesse zu wecken. Wichtig ist, sich auf die verschiedenen Lebens- und Alltagswelten junger Leute einzulassen und sie von Anfang an am Bildungsprozess zu beteiligen. Sonst kann man keine Glaubwürdigkeit erzeugen.

Sie sagen, junge Menschen sind sehr heterogen. Sehen Sie die Gefahr einer Spaltung?

Die Spaltung der Gesellschaft gibt es und sie reproduziert sich bei Jugendlichen. Kinder aus Arbeiterfamilien haben es sechsmal schwerer, aufs Gymnasium und an die Uni zu kommen als Kinder mit einem Akademikerhintergrund. Jugendliche haben aber ein Potenzial, aus dieser Situation herauszukommen, wenn sie erstens Bildungserfolge haben und sich zweitens in Beteiligungsprozessen als wirksam erleben. Dann ist die Chance größer, Benachteiligungen zu überwinden.

Wie kann man Jugendliche aus benachteiligten Milieus ansprechen?

Es gibt immer das Vorurteil, dass Jugendliche mit Bildungsbenachteiligung weniger politisch sind. Das ist ein fataler Irrtum. Jugendliche aus bildungsbenachteiligten oder abgehängten sozialen Milieus benutzen eine andere Sprache für das, was sie selbst nicht als Politik benennen würden, was aber essenziell politisch ist. Daraus kann man natürlich in der politischen Bildung Konsequenzen ziehen, indem man eben nicht die klassischen Wege der Vermittlung geht, sondern zum Beispiel glaubwürdige Multiplikatoren wie Influencer aktiviert, um Türen zu öffnen. Influencer nehmen die Jugendlichen als glaubhaft wahr, sie hören ihnen zu.

Sie haben also keine Berührungsängste mit sozialen Medien?

Wir kritisieren einerseits die großen Plattformen und die Plattform-Ökonomie deutlich. Andererseits können wir nicht darauf verzichten, sie zu nutzen, weil wir sonst große Gruppen gar nicht mehr erreichen würden. Man muss aus dem Elfenbeinturm raus, anders geht es nicht.

Wir haben gute Erfahrungen mit digitalen Formaten gemacht. Das Feld ist natürlich unendlich breit. Man kann sich an lineare Formate anschließen, wie wir es beispielsweise mit der Soap „Köln 50667“ gemacht haben: Wir haben mit den Protagonisten zusammengearbeitet und versucht, bestimmte Alltagsfragestellungen mit Video-Snippets zu verhandeln. Dabei geht es um Themen wie Diversität, Rassismus, Hatespeech oder sexuelle Identität. Die Reihe heißt „Komma klar“ und ist sehr erfolgreich.

Darüber hinaus haben wir aber auch Formate entwickelt, die direkt auf den Kanälen der Influencer stattfinden, also hier auch Menschen abholen, die nicht unbedingt Kanäle der bpb abonniert haben. Angefangen mit dem Format „Begriffswelten Islam“, in der die Beautybloggerin Hatice Schmidt wichtige Begriffe des Islams erklärt, bis hin zu 2021 mit dem Format UnFake: Auf den Kanälen von SelfieSandra, El Margo und der Gamerin Gnu sensibilisieren die Videos zu einem kritischen Umgang mit Desinformationen. Wichtig ist für uns natürlich, dass solche Inhalte ausgewogen und korrekt sind. Deshalb ist die fachlich-didaktische Begleitung wichtig.

Oder man kann eigene Webvideo-Reihen starten wie unser Projekt „Die Moral der Geschichte“. Darin werden moralische Dilemmata vor dem Hintergrund aktueller Krisen wie der Klimakrise behandelt.

Würden Sie sagen, dass es keinen Ort gibt, wo politische Bildung nicht stattfinden kann?

Absolut. Wir haben gelernt, dass die klassischen Kanäle nur bedingt taugen, um die ganze Gesellschaft zu erreichen. Wir nutzen sie natürlich trotzdem. Es wäre zum Beispiel zu kurz gedacht, die Schule als Lernort nicht zu nutzen. Da sind sowohl die politischen Fächer relevant als auch die Fragen politischer Bildung im schulischen Kontext. Demokratisches Handeln lernt man ja auch im Umgang miteinander an der Schule.

Neben der schulischen und außerschulischen Bildung spielt die informelle Bildung eine immer größere Rolle, das Selbstlernen. Dafür haben wir etwa den Messenger-Dienst „Die tägliche Dosis Politik“, der von 50.000 Jugendlichen abonniert wird. Sie kriegen morgens um sieben die wichtigsten Stichworte auf ihre mobilen Geräte, die in den Nachrichten diskutiert werden.

Wer so einen Dienst nicht abonniert hat, findet Informationen in den sozialen Medien, die nicht immer stimmen. Die Tendenz zu Verschwörungstheorien nimmt zu. Woran liegt das?

Auf die immer komplexer werdenden gesellschaftlichen Fragen geben Urheber von Falschinformationen und Propaganda vermeintlich einfache Antworten. Sie nutzen das Bedürfnis nach Orientierung der Menschen, indem sie erklären, dass bestimmte Gruppen oder Personen das Geschehen in Wirtschaft und Politik nach geheimen Plänen lenken.

Diese Verschwörungsnarrative werden häufig nicht von Jugendlichen verbreitet, sondern von Erwachsenen. Junge Leute wachsen mit der Vielfalt der Medienkanäle auf und glauben nicht jeden Mist. Trotzdem ist in Sachen Medienbildung und kritische Reflexion von Medien noch sehr viel Luft nach oben, auch bei jungen Leuten.

Gegen Verschwörungsnarrative hilft also Medienbildung?

Politische Bildung geht heute nicht mehr ohne Medienbildung – und Medienbildung auch nicht ohne politische Bildung. Man braucht eine kritische Kompetenz, um Medieninhalte insbesondere in den sozialen Medien zu hinterfragen. Das sind die klassischen journalistischen Qualitätsmerkmale: die zweite Quelle, der Abgleich kontroverser Positionen, der Faktencheck.

Man muss etwas dafür tun, dass Inhalte in den sozialen Medien nicht in hermetischen Räumen zirkulieren. Diese Räume muss man öffnen, mit der kritischen Öffentlichkeit konfrontieren. Nur so kann man die Kreisläufe durchbrechen, in denen aus Verschwörungsnarrativen auch Gewalt werden kann.

Die Bundesregierung hat einen Vorschlag für ein Demokratiefördergesetz gemacht, um politische Bildung voranzutreiben und Extremismus vorzubeugen. Wie schauen Sie auf den Entwurf?

Ich sehe den Entwurf mit gemischten Gefühlen. Gut finde ich, dass eine gesetzliche Grundlage für diese Politikfelder geschaffen werden soll. Man sieht ja, dass die verschiedenen Regierungen die Budgets dafür entweder erhöhen oder eben absenken. Deshalb ist es gut, Sicherheit zu schaffen.

Was sehen Sie kritisch?

Mich beschäftigt die Frage, wie politische Bildung, Prävention und Vielfaltsgestaltung zueinander in Beziehung zu setzen sind. Da wird viel zu sehr vermischt, was eigentlich gar nicht zusammengehört. Politische Bildung ist ein Möglichkeitsdiskurs. Wir diskutieren über Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Prävention arbeitet dagegen mit einem Verhinderungsgebot. Es geht darum, eine bestimmte Gesellschaftsform als gesetzt zu definieren. Die Abweichung davon soll verhindert werden.

Nun ist aber eine Gesellschaft immer im Wandel. Wir erleben es gerade bei dem Empowerment etwa von LGBTQ+-Personen, Menschen mit Migrationsgeschichte oder People of Color. Das sind alles Prozesse, die für die Heterogenisierung der Gesellschaft stehen. Ein feststehendes Bild von Gesellschaft, das reproduziert wird, kann solche Emanzipationsprozesse auch behindern. Insofern bin ich kein Fan davon, der politischen Bildung die Spielregeln von Prävention aufzuzwingen.

Was wäre aus Ihrer Sicht sinnvoll?

Ich plädiere stark dafür, dass man sich für eine offene und vielfältige Gesellschaft einsetzt. Die Projekte der Zivilgesellschaft müssen kritisch daraufhin untersucht werden, welche Wirkung sie für die Demokratie erzeugen. Politische Bildung muss ein Instrument sein, das uns die Möglichkeit gibt, an demokratischen Prozessen teilzuhaben und die Gesellschaft zu verändern, weiterzuentwickeln, neue Akzente zu setzen, die Herausforderungen der Gegenwart mitzugestalten.

Zur Person

Thomas Krüger

Thomas Krüger, 1959 geboren, hat einen bewegten Lebenslauf: Er machte nach der Schule eine Ausbildung zum Facharbeiter für Plast- und Elastverarbeitung. Anschließend studierte er Theologie und wurde Vikar. 1989 gründete er in die Sozialdemokraten in der DDR mit. Nach der Wiedervereinigung war er in der Berliner Politik tätig, bis er 1994 für eine Legislaturperiode in den Deutschen Bundestag einzog. Seit 2000 ist er Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung.

(Julia Karnahl & Jörg Flachowsky)

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