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Expertinnen „Die Nazis wollten jeden Juden ermorden“

Die Nazis ermordeten mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Als Schlüsselereignis zu diesem beispiellosen Verbrechen gilt die Wannsee-Konferenz vor 80 Jahren. Was es mit diesem Treffen auf sich hat, erklären zwei Expertinnen.

Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin

Hier planten die Nazis die „Endlösung der Judenfrage“. Heute ist das Haus der Wannsee-Konferenz eine Bildungs- und Gedenkstätte. © picture alliance/dpa/Annette Riedl

Wer sich im Geschichtsunterricht mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinandersetzt, stößt meist auf ein Ereignis: die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Was sollten Schülerinnen und Schüler über diesen Tag wissen?

Verena Bunkus: An diesem Tag trafen sich 15 hochrangige Vertreter des Nazi-Staates zu einer Besprechung. Auf der Tagesordnung gab es nur einen einzigen Punkt: die sogenannte Endlösung der Judenfrage. Viele Leute denken, am 20. Januar 1942 wäre die Entscheidung zum Holocaust gefallen. Doch der Massenmord ist zu diesem Zeitpunkt längst beschlossen und die Nazis haben schon mehr als eine Million Jüdinnen und Juden ermordet.

Kurz erklärt: Die Nazis und ihr Hass

Der Nationalsozialismus war eine politische Bewegung, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1919 entstand. Ein wichtiger Kern ihrer Ideologie war der Antisemitismus, der Hass auf Jüdinnen und Juden. Die Nationalsozialisten, man sagt auch Nazis, teilten Menschen in Gruppen ein und behaupteten, es gebe „höherwertige“ und „minderwertige“. Diese Gruppen nannten sie Rassen. Ganz unten standen für die Nazis Jüdinnen und Juden.

Unter ihrem Führer Adolf Hitler errichteten die Nazis ab 1933 eine Diktatur und begannen, gezielt Menschen mit jüdischem Glauben zu verfolgen. Sie verhafteten und sperrten sie in Arbeits- und Konzentrationslager, wo sie sehr hart arbeiten mussten und oft an Hunger und Krankheit starben.

Nachdem die Nazis den Zweiten Weltkrieg begannen, verfolgten und töteten sie auch die Jüdinnen und Juden in den von ihnen besetzen Ländern. Am Ende des Krieges, im Jahr 1945, hatten die Nazis mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet. Dieser Massenmord wird Holocaust genannt.

Worum ging es dann bei dem Treffen?

Verena Bunkus: Es ging bei der Wannsee-Konferenz darum, wie die verschiedenen staatlichen Stellen bei den geplanten Deportationen, also den Zwangsverschickungen von Menschen vor allem in den Osten, miteinander kooperieren. Und es ging darum, die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden zu koordinieren.

Deborah Hartmann: Das bedeutet konkret, dass der gesamte deutsche Staatsapparat am Massenmord beteiligt war – in vollem Bewusstsein. Diese gesellschaftliche und individuelle Beteiligung am Holocaust ist es, was wir Schülerinnen und Schülern aber auch erwachsenen Gruppen in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz näher bringen möchten.

Einer der Anwesenden fertigte ein Protokoll der Besprechung an, das nach Kriegsende gefunden wurde. Welche Rolle spielte das Dokument bei der Aufarbeitung der Nazi-Zeit?

Deborah Hartmann: Dieses Protokoll ist nicht unproblematisch. Es spricht zwar von Massenmord, tut dies aber auf sehr verschleiernde Art und Weise. Deswegen ist es uns wichtig, das Dokument kritisch zu lesen und zu fragen: Worüber reden die Leute da? Man muss zwischen den Zeilen lesen und herausarbeiten, worüber wirklich gesprochen wurde.

Verena Bunkus: Gleichzeitig ist das Protokoll wichtig, weil es das Beispiellose an diesem Verbrechen zeigt. Auf einer Seite ist zum Beispiel akribisch aufgelistet, in welchen Ländern angeblich wie viele Jüdinnen und Juden leben. Das verdeutlicht: Egal wo auf der Welt, die Nazis wollten jede Jüdin und jeden Juden ausfindig machen und ermorden.

In vielen Schulen stehen Besuche in NS-Gedenkstätten auf dem Lehrplan, manche Schülerinnen und Schüler würden an dem Tag lieber etwas anderes unternehmen. Wie überzeugen Sie jene, die nicht so großes Interesse haben?

Deborah Hartmann: Ich weiß gar nicht, ob es als Gedenkstätte unsere Aufgabe ist, Leute zu überzeugen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte muss immer auch ein Stückweit freiwillig erfolgen. Was wir machen können ist, verschiedene Angebote zu entwickeln, die Schülerinnen und Schüler, aber auch Erwachsene in ihrer Lebenswirklichkeit heute abholen, mit ihren Fragen, Perspektiven und Erfahrungen – aber auch mit ihren Widerständen. Also auch jenen ein offenes Angebot zu machen, die sagen: Ich habe keine Lust, mich mit diesem Teil der Geschichte zu beschäftigen, der natürlich unangenehm und schmerzhaft ist.

Welche Rolle spielt dabei der Ort?

Deborah Hartmann: Ich glaube nicht, dass es unbedingt notwendig ist, einen konkreten Ort zu haben, um sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Aber vielleicht kann eine Gedenkstätte mit ihrer ganz spezifischen Geschichte einen anderen Zugang schaffen, als wenn ich mich mit dem Thema in einem nüchternen Klassenraum beschäftige. Allerdings: Der Besuch in einer Gedenkstätte ist eine Ergänzung zu dem, was in anderen Bereichen geschieht, ob in den Medien, in der Schule oder zuhause. Das eine ersetzt das andere nicht. Was zum Beispiel Familiengespräche leisten können, kann der Besuch in einer Gedenkstätte vielleicht nicht.

Spannend sind oft Gespräche mit Zeitzeugen, die gewisse Dinge selbst noch erlebt haben. In einigen Jahren wird es keine Überlebende des Nationalsozialismus mehr geben. Kann der Holocaust über digitale und soziale Medien in den Köpfen präsent bleiben?

Verena Bunkus: Ja, die Ermordung der mehr als sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden kann über digitale und soziale Medien präsent bleiben. In Zeiten der Pandemie hat sich das Erinnern und Lernen im digitalen Raum verstärkt. Von Gedenkstätten gibt es vielfältige Angebote wie digitale Gelände-Erkundungen und Erklärvideos.

Deborah Hartmann: Geht es um Überlebende und Betroffene selbst, möchte ich ein Beispiel nennen: Lily Ebert. Sie ist 98 Jahre alt und hat das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Ihre Erfahrungen teilt sie auch auf sozialen Medien. Auf Tiktok hat Lily Ebert ungefähr 1,5 Millionen Follower und beantwortet mithilfe ihres Urenkels Fragen. Auch das ist jetzt möglich.

Die Wannsee-Konferenz ist – fast auf den Tag genau – 80 Jahre her. Warum ist es immer noch wichtig, daran zu erinnern?

Deborah Hartmann: Wir erinnern ja an die Opfer, an die Ermordeten und Verfolgten, an die Überlebenden – und nicht unbedingt an die Wannsee-Konferenz. Das wird oft so gesagt, hört sich jedoch ein bisschen merkwürdig an, finde ich. Aber natürlich hat die Wannsee-Konferenz in ihrer ganzen Symbolkraft eine Bedeutung. Sie hatte eine Bedeutung in der Zeit selbst, aber auch für die Zeit nach 1945 bis heute.

Verena Bunkus: Das sieht man allein schon daran, dass das Protokoll der Besprechung immer wieder zitiert wird. Die Seite mit der Tabelle zum Beispiel findet sich in sehr, sehr vielen Ausstellungen und verschiedenen Gedenkstätten, auch über die Grenzen Deutschlands hinaus. Deswegen ist es wichtig, auch 80 Jahre danach noch immer über die Wannsee-Konferenz zu sprechen, über sie aufzuklären und unsere Vorstellungen zu schärfen, was wir mit ihr verbinden.

Portraits von Verena Bunkus und Deborah Hartmann

Verena Bunkus (links) und Deborah Hartmann. © Jakob Stürmann/Yoram Aschheim


Über Deborah Hartmann

Deborah Hartmann leitet seit Dezember 2020 die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin. Geboren 1984 in Wien studierte sie Politikwissenschaft und arbeitet seit vielen Jahren im Bereich der Gedenkstättenpädagogik, unter anderem an der International School for Holocaust Studies Yad Vashem in Jerusalem.

Über Verena Bunkus

Bevor Verena Bunkus im August 2021 zur Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz kam, begann sie eine Promotion am Forschungskolleg Transkulturelle Studien/Sammlung Perthes Gotha und arbeitete im Erinnerungsort Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz in Erfurt. Bunkus wurde 1986 geboren und studierte Geschichte und Slawistik in Berlin.

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