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Sohn fragt Mutter „Das war irgendwie alles verlogen“

Grit erzählt ihrem Sohn William, wer zu DDR-Zeiten Jeans kaufen durfte und wer nicht, warum sie und ihre Eltern im Bootsclub im Regen sitzen mussten und wieso sie sich nie den Mund verbieten ließ.

Mutter und Sohn

„Klassenkameraden, die Mitglied der Kirche waren, wurden von bestimmten Aktivitäten in der Schule ausgegrenzt. Das fand ich ungerecht“, sagt Grit. © privat

Wie sah dein Alltag als Kind und Jugendliche in der DDR aus? War er anders als mein Alltag heute?

Vieles war ähnlich. Ich bin wie du in den Kindergarten gegangen, mit sechs dann zusammen mit meiner Zwillingsschwester in die Schule. Morgens haben wir als Familie gemeinsam gefrühstückt. Vormittags gab es Unterricht, nachmittags Arbeitsgemeinschaften, ich habe zum Beispiel Bildende Kunst und Grafik gewählt. Mit der Klasse sind wir oft ins Kino und Theater gegangen oder haben Ausflüge gemacht. Am Wochenende war dann Familienzeit.

Spielte Politik an der Schule eine Rolle?

Einige Veranstaltungen standen unter einem politischen Motto, zum Beispiel gab es eine Freundschaftsbörse für Brief-Freundschaften mit russischen Jugendlichen. Russland war damals Teil des Staates Sowjetunion, einer der Siegermächte nach dem 2. Weltkrieg, der Ostdeutschland besetzt hatte. Die kommunistische Sowjetunion, selbst eine Diktatur, spielte eine wichtige Rolle beim Aufbau von Sozialismus und Diktatur in der DDR.

Und im Unterricht, ging es da um Politik?

Nur im Fach Staatsbürgerkunde. Da ging es ausschließlich um den „sozialistischen Staatsbürger“, zu dem wir erzogen werden sollten. Und um „den Westen“, den „Klassenfeind“, dessen System abgelehnt wurde. Für mich und viele Klassenkameraden war das Fach eine lästige Pflicht, wir hatten unsere eigene Meinung. Wir in Berlin konnten ja übrigens alle auch West-Fernsehen schauen und hatten dadurch viele Einblicke und Informationen.

Und in den anderen Fächern spielte Politik keine Rolle?

Nein, kaum. In Geografie haben wir auch sehr viel über die Bundesrepublik, Großbritannien, also das westliche Ausland gelernt, aber nicht unter dem Fokus „das ist der Klassenfeind“, sondern etwa über Bodenschätze und Infrastruktur.

Konntet ihr frei eure Meinung sagen?

Ich habe es jedenfalls getan in der Schule. Das war nicht immer das, was die Lehrer hören wollten. Unter uns Jugendlichen haben wir ganz offen gesprochen. Ich persönlich habe da nie Konsequenzen erfahren, aber natürlich so meine Beobachtungen gemacht.

Welche zum Beispiel?

Klassenkameraden, die zum Beispiel Mitglied der Kirche waren, wurden von bestimmten Aktivitäten in der Schule ausgegrenzt. Das fand ich ungerecht.

Aber was hatte die Kirche mit Ost-West zu tun?

Die Kirche war eher staatsfern und immer sehr offen, es gab zum Beispiel viele Austausch-Programme mit Westdeutschland. Wer sich in der Kirche engagierte, war in der Regel nicht Mitglied der Jugend-Organisationen der Sozialistischen Einheitspartei der DDR, der SED. Die SED war die dominierende Partei, die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft lenkte. Und die hatte zwei Jugendorganisationen, wo sie sich Nachwuchs sicherte: die Jungpioniere für die Grundschüler und die Freie Deutsche Jugend (FDJ) für die Älteren. Und es machte schon einen Unterschied, ob man da Mitglied war oder nicht. Oder ob die Eltern sich in der SED engagierten. Da ging es ganz schön ungerecht zu.

Kannst du das noch genauer erklären?

Sicher. Also meine Schule lag genau in dem Gebiet, in dem das Ministerium für Staatssicherheit lag, das wurde kurz „Stasi“ genannt. Das waren der Geheimdienst und die Geheimpolizei der DDR, die die Bürger überwachten und unterdrückten. In unserem Wohnviertel wohnten also viele Stasi-Mitarbeiter, viele meiner Klassenkameraden waren deren Kinder. Und die hatten viele Vorteile.

Kannst du Beispiele nennen?

Zum Beispiel konnten diese Familien in einem speziellen Kaufhaus für Stasi-Mitarbeiter auch Produkte aus Westeuropa kaufen, etwa Levis-Jeans, wir anderen durften da nicht rein. Außerdem hatten diese Leute erstaunlicherweise häufig West-Mark, also die D-Mark der Bundesrepublik, mit der sie in den Intershop-Läden kaufen konnten. Das waren besondere Läden, in denen man mit West-Mark Produkte aus dem Westen einkaufen konnte, also etwa Jeans, Seife, Kaffee, Elektronik-Artikel. Das war irgendwie alles verlogen…

… verlogen? Was meinst du damit genau?

Naja, offiziell wurde gerade von den Stasi-Leuten immer gepredigt, wir sind sozialistische Staatsbürger, der Sozialismus ist toll, im Westen sitzt der Klassenfeind. Aber gleichzeitig haben sie dann die Produkte des Klassenfeindes gekauft. Und offiziell hieß es immer, wir sind alle gleich im Sozialismus, aber tatsächlich habe ich viel Ungleichheit erlebt. Wer Mitglied in der SED war, hatte viele Privilegien.

Oma und Opa, also deine Eltern, waren nicht in der Partei, hast du mir mal erzählt.

Genau, meine Eltern waren nicht Mitglied in der SED. Sie konnten sich mit der
Ideologie nicht identifizieren. Sie waren der Meinung, jeder Mensch sollte in seinem Geist frei sein. Dadurch hatten sie viele Nachteile.

Welche genau?

Zum Beispiel mussten meine Eltern ganz schön dafür kämpfen, dass ich überhaupt Abitur machen durfte, das war für Kinder von Parteimitgliedern viel einfacher. Und auch im Bootsclub hatten wir Nachteile.

Im Bootsclub?

Ja, wir hatten ein Kajütboot und in dem Club gab es auch Lauben, also kleine Hütten oder Häuschen. Die bekamen in der Regel aber nur Parteimitglieder. Wir hatten ein kleines Plätzchen für unser Zelt. Wenn es regnete oder stürmte, saßen die anderen in ihren Lauben und Oma, Opa, meine Schwester Sabine und ich saßen entweder im Boot oder im Zelt.

Hatten Oma und Opa auch berufliche Nachteile?

Ja. Oma war Regieassistentin beim DDR-Fernsehen und durfte nicht mit zu Aufnahmen im Ausland, auch ein beruflicher Aufstieg war für sie kaum möglich. Opa war Entwicklungsingenieur für Fernsehelektronik, viele seiner Kollegen, die in der Partei waren, haben Karriere gemacht.

Hast du damit gerechnet, dass das alles mal ein Ende haben könnte?

1987 haben ungarische Freunde aus Budapest gesagt, die Mauer wird fallen. Damals konnte ich das nicht glauben. Dann begann der Prozess der Öffnung in der Sowjetunion, den der damalige Chef der Kommunistischen Partei dort, Michail Gorbatschow, einleitete. Immer mehr Menschen sind in der DDR auf die Straße gegangen, auch vor der Wendezeit. Da habe ich dann gehofft, dass die Mauer fällt.

Kannst du dich noch an den Tag des Mauerfalls erinnern?

Ja, ganz genau. Ich saß spät abends ganz alleine vor dem Fernseher und guckte West-Fernsehen. Und dann kam diese Szene in den Nachrichten, die zeigte, dass am Berliner Grenzübergang in der Bornholmer Straße um kurz vor Mitternacht Menschen einfach so die Grenze passierten. Da habe ich meine Eltern geweckt und gesagt: „Die Grenze ist offen.“ Die konnten das nicht glauben. Dann saßen wir zu dritt vor dem Fernseher, wie in einer Starre. Das war unfassbar für uns.

Hast du mal darüber nachgedacht, wie dein Leben verlaufen wäre, wenn es den Mauerfall nicht gegeben hätte?

Ja, öfter. Ich weiß, dass ich die Freiheit, zu wählen, nicht gehabt hätte. Zum einen politisch, also frei zu entscheiden, welche Politik ich richtig finde, und dort mein Kreuz zu setzen. Aber auch beruflich. Ich hätte nie die Freiheit gehabt, als Unternehmerin im Bereich Immobilien zu arbeiten, wie ich es heute tue. Mir hätte immer etwas gefehlt, das weiß ich.

Und mich gäbe es ja gar nicht ohne den Mauerfall. Du hättest Papa nie kennengelernt…

… stimmt!

Über Grit und William

Grit war beim Fall der Mauer 21 Jahre alt. Heute betreibt sie eine Immobilien-Firma. Sie ging in Berlin Lichtenberg zur Schule und machte Abitur. Nach einer Ausbildung zur Tourismuskauffrau arbeitete sie zunächst in einem Reisebüro, 1990 begann sie ein BWL-Studium an der TU Dresden.

William wohnt mit seiner Mutter Grit und seinem englischen Vater James in Potsdam. Der 15-Jährige besucht die 10. Klasse eines Gymnasiums, in seiner Freizeit spielt er Fußball.

(protokolliert von mh)

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