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Vicky in London Brexit, du nervst

Victoria Gütter

Mehrmals täglich gibt es neue Nachrichten aus dem britischen Parlament. Vicky, die in London lebt und arbeitet, ist von diesem Chaos genervt, hat aber ihren Weg gefunden, damit umzugehen.

Portraitfoto

Fünf Minuten widmet sie am Tag dem Brexit, mehr lohnt sich nicht, findet Vicky. © privat

Demo ohne mich

Eine Million Menschen haben sich den Organisatoren zufolge vergangenen Samstag, am 23. März, in London versammelt, um für ein zweites Brexit-Referendum zu demonstrieren. Sie wollen erneut darüber abstimmen, ob Großbritannien über einen Austritt aus der Europäöischen Union verhandeln soll oder nicht. Ich saß in der Uni, als die Demonstranten, die teilweise stundenlange Zugfahrten hinter sich hatten, weil sie aus dem gesamten Königreich angereist kamen, durch die Straßen Londons zogen.

Fünf Minuten Brexit am Tag

Als ich abends auf dem Heimweg war, sah ich eine etwas schüchtern wirkende Frau mir gegenüber in der U-Bahn sitzen. An ihrer Jacke trug sie ein "People’s Vote"-Anstecker – also von der Pro-Referendum-Kampagne. Kurz erinnere ich mich an den Flyer derselben Bewegung, den ich am Abend zuvor vor meiner Haustür gefunden hatte und lächelte ihr aufmunternd zu. Das war es auch schon mit meiner politischen Beteiligung am Brexit für diesen Tag.

Ich verfolge zwar die aktuellen Geschehnisse rund um den Brexit, aber das beschränke ich auf fünf Minuten News-Checken am Abend – nur, um nicht komplett den Überblick zu verlieren. Manchmal frage ich mich, wie die Parlamentarier im Unterhaus bei dem ständigen Hin und Her, stundenlangen Debatten und sich ständig neu auftuenden Möglichkeiten wie, wann und ob der Brexit stattfindet, noch durchblicken.

"Ich weiß auch nicht mehr als ihr"

Die kulturelle Vielfalt in London ist zweifelsohne einzigartig in Europa – und für mich immer noch einer der Hauptgründe, warum ich 2016 in die britische Metropole gezogen bin, Brexit hin oder her. Ich kenne keine andere Stadt in Europa, in der so viele Menschen unterschiedlicher Nationen und Kulturen miteinander leben. Die Anzahl an britischen Kollegen in meiner Firma liegt bei circa zehn Prozent. Die Liste der Nationen ist fast so lang wie die der EU-Mitgliedsstaaten. Die Liste der schlaflosen Nächte wegen des nicht enden wollenden Brexit-Dramas bei mir jedoch sehr kurz.

Das mag vor allem daran liegen, dass weder meine Kollegen noch ich die Nachrichten genauestens verfolgen. "Da sieht doch keiner mehr durch", meint meine deutsche Kollegin Ayla. Aus unserer Personalabteilung kommen allenfalls gelegentlich E-Mails mit einer Aufmunterung, getreu dem Motto: Keine Sorge, ihr bekommt von uns jede mögliche Unterstützung, damit ihr weiter im Vereinigten Königreich bleiben und arbeiten könnt.

Offenbar erwartet meine Familie, dass ich mehr im Bilde bin. Wann immer es Neuigkeiten bezüglich des Brexits gibt, dauert es nicht lange, bis ich eine Nachricht, eine Email oder einen Anruf von diversen Mitgliedern meiner Familie erhalte. Und jedes Mal rolle ich mit den Augen, atme tief durch und antworte immer dasselbe: "Ich weiß auch nicht mehr als ihr."

Worst case: Aufenthaltsgenehmigung

Selbst als meine Mutter und mein Großvater mich vergangenes Wochenende an meinem Geburtstag besuchten, dauerte es nicht lange, bis das "B-Thema" auf den Tisch kam. "Ich kann nicht verstehen, warum die Briten raus aus der EU wollen", raunte mein Großvater. Ich zuckte nur mit den Schultern. "Und wie geht es für dich weiter?", wollte er wissen.

Eine Frage, die ich mir häufig in den letzten Wochen gestellt habe. Wegen des Brexits aus London wegzuziehen, kommt für mich nicht in Frage. Ich gebe meinen Traum von einem Leben hier nicht auf, nur weil im Juni 2016 die knappe Mehrheit der Briten für die Option eine EU-Austritts gestimmt hat. "Rauswerfen tun die mich nicht", antwortete ich meinem besorgten Großvater.

Denn egal, ob es einen Brexit mit oder ohne Deal geben wird, fest steht: Ich müsste nach jetzigem Stand eine Art Aufenthaltsgenehmigung beantragen, den sogenannten "pre-settled status" für umgerechnet circa 80 Euro. Damit darf ich weiter hier arbeiten, besitze eine Krankenversicherung und kann innerhalb sowie außerhalb des Vereinigten Königreiches reisen. So ist zumindest aktuell der Stand.

Reise ins Ungewisse

Ich muss zugeben, alles fühlt sich extrem surreal an. Ich kann diesen Brexit nicht sehen, nicht anfassen und vergesse dabei schnell, dass er bald Realität sein könnte. Dabei bin ich doch mit den Vorzügen der EU groß geworden, musste bis zu meinem Trip in die USA letztes Jahr noch nie ein Visum für meinen Urlaub beantragen. Was das problemlose Reisen angeht, macht sich meine beste Freundin einige Sorgen. Regelmäßig fragt sie mich, ob es schon sinnvoll wäre, ihre Flüge nach London für Ende Mai zu buchen. Ob die Flugzeuge fliegen würden und ob sie problemlos ins Land reisen könnte.

Zu gern würde ich meiner Familie wie meinen Freunden mehr Zuversicht geben. Doch selbst die Aussagen des Auswärtigen Amtes sind vage: "Sollte es noch zu einer Einigung kommen, werden sich für Reisende voraussichtlich bis zum 31. Dezember 2020 keine Änderungen ergeben", steht auf der offiziellen Website. Will heißen: Alles bleibt erstmal beim Alten.

Gewissheit haben wir in diesen anhaltend unsteten Brexit-Zeiten nicht. Aber immerhin weiß ich mittlerweile, was ich am 29. März 2019, dem nun veralteten Austrittsdatum für den Brexit vorhabe: Bei sonnigen 17 Grad, die für den Tag angekündigt sind, auf der Terrasse meiner Wohnung im Londoner Stadtteil Brixton sitzen, arbeiten, Tee trinken und hoffen, dass London der kulturelle Schmelztiegel Europas bleiben wird, den ich stolz meine neue Heimat nenne.

Victoria Gütter

Zur Person

Mitmischen-Autorin

Victoria Gütter

arbeitet als Projektmanagerin und studiert Social Media

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