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Menschenrechtsexpertin „Förderschulen schrittweise abschaffen“

„Die inklusive Beschulung in Deutschland klappt immer noch nicht gut“, sagt Susann Kroworsch vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Was sich ändern müsste, erklärt sie im Interview.

Porträt von Susann Kroworsch

Der Aufbau eines inklusive Schulsystems gehe zu langsam voran, so Menschenrechtsexpertin Susann Kroworsch. Der Bund müsse stärker in die Pflicht genommen werden. © DIMR/Barbara Dietl

Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat einen Bericht zur Menschenrechtssituation in Deutschland 2021/2022 veröffentlicht. Um welche Themen ging es?

Im aktuellen Menschenrechtsbericht ging es vor allem um das Thema inklusive Bildung, aber zum Beispiel auch um die Frage, wie die menschenrechtspolitische Situation an den EU-Außengrenzen ist oder wie es um die kindgerechte Justiz steht. Außerdem ging es um Themen wie Klimapolitik oder um inklusive Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung.

Der Bericht wird jährlich vorgelegt. Warum ist das wichtig?

Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) ist die nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Die Idee dahinter ist, dass der Staat ein unabhängiges Monitoring der Menschenrechtssituation im Land finanziert. Unsere Aufgabe ist es deshalb, die Menschenrechtspolitik kritisch zu begleiten und Vorschläge zu machen, wie man die Menschenrechte in Deutschland noch stärker beachten kann. Und der Bericht nimmt aktuell menschenrechtlich relevante Themen in den Blick. Dabei sind wir als unabhängige Überwachungsstelle frei in der Themensetzung und orientieren uns daran, wo die Menschenrechte gerade besonders gefährdet sind.

Mit unserem Bericht werden wir jedes Jahr in den Menschenrechtsausschuss des Bundestags eingeladen und sprechen dort mit den Ausschussmitgliedern über die jeweiligen Themen. Darüber hinaus ist das Institut ganzjährig mit Abgeordneten im Austausch und wir diskutieren etwa, wie eine menschenrechtsgerechte Bildungs-, Asyl- oder Außenpolitik aussehen kann.

Übrigens werden die Inhalte der Berichte immer in vielen Formen und Formaten aufbereitet. So versuchen wir viele Gruppen der Gesellschaft zu erreichen. Im letzten Bericht war Bildung ein Schwerpunkt, dazu gibt es beispielsweise ein Video, das die Ergebnisse des Berichts zusammenfasst. Die Berichte gibt es auch in leichter Sprache, es gibt Kurzfassungen und lange Versionen und es gibt sie auf Englisch.

DIMR-Gesetz

Seit 2015 gibt es das Gesetz über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMRG). Es verpflichtet das Institut, jährlich einen Bericht über die Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland vorzulegen. In dem Gesetz ist auch festgelegt, dass der Bundestag zum Bericht Stellung nehmen muss.

Wie steht es denn um das aktuelle Schwerpunktthema: Wie gut klappt die inklusive Bildung in Deutschland?

Die Behindertenrechtskonvention ist jetzt schon seit fast 14 Jahren in Deutschland in Kraft und leider klappt die inklusive Beschulung in Deutschland immer noch nicht gut. Im Bundesdurchschnitt werden sechs von zehn Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Förderschulen unterrichtet. Dabei gibt die UN-Behindertenrechtskonvention ganz klar vor, dass alle Kinder miteinander lernen sollen. Inklusion heißt, dass alle Kinder im allgemeinen Schulsystem unterrichtet und Sonderstrukturen wie die Förderschulen schrittweise abgebaut werden.

Einige Bundesländer wie Bremen, Hamburg oder Schleswig-Holstein verfolgen das Ziel, alle Kinder gemeinsam in Regelschulen zu unterrichten, politisch deutlich systematischer. Dort sind die Quoten auch besser: In Bremen wird beispielsweise nur eins von zehn Kindern in einer Förderschule unterrichtet. Aber in den meisten Bundesländern zeigen sich leider gegenläufige Tendenzen. Dort stagniert der Prozess, ein inklusives Schulsystem zu verwirklichen, oder es sind sogar Rückschritte zu verzeichnen. Die Exklusionsquoten – das sind die Quoten, die angeben, wie viele Kinder außerhalb des allgemeinen Schulsystems unterrichtet werden – steigen hier sogar. Das ist zum Beispiel in Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg der Fall.

Das Ziel ist es also, Förderschulen langfristig abzuschaffen?

Schrittweise sollen die Förderschulen abgeschafft werden, ja. Das muss mit einer Gesamtstrategie und unter den richtigen Bedingungen geschehen. Die Kompetenzen, die man derzeit noch in den Förderschulen findet, müssen in die allgemeine Schule verlagert werden. So soll ein System aufgebaut werden, das den Bedürfnissen aller Kinder gerecht wird.

Im Bericht geht es um ein Fallbeispiel: Eltern haben in diesem Szenario nicht genug Informationen erhalten, um eine Entscheidung zwischen Förderschule und inklusiver Schule für ihr Kind zu treffen. Gibt es in der Beratung der Eltern oft Probleme?

Wir hören oft, dass Eltern nicht die notwendigen oder fachgerechten Informationen erhalten, die eine echte Wahl erlauben. Beispielsweise erfahren sie manchmal gar nicht, dass das Kind ein Recht auf eine Beschulung an einer allgemeinbildenden Schule hat. Oder sie werden nicht ausreichend aufgeklärt, dass ein Wechsel von einer Förder- auf eine allgemeinbildende Schule gar nicht so einfach ist, wenn das Kind erst einmal auf der Förderschule ist.

Im Bericht wird „fehlender politischer Wille“ in der Umsetzung von inklusivem Unterricht in manchen Bundesländern festgestellt. Wie macht sich der bemerkbar?

Häufig wird in diesem Zusammenhang das problematische Argument ins Feld geführt, dass Regelschulen nicht mit menschenrechtlichen Vorgaben vereinbar seien, weil Kinder nur an den Förderschulen richtig gefördert würden. Dabei gibt es bisher aber keine Studien, die das belegen könnten. Ganz im Gegenteil: Studien zeigen, dass knapp 73 Prozent der Schüler und Schülerinnen an Förderschulen diese ohne einen Abschluss verlassen.

In diesen Fällen stellt die Förderschule einen Auftakt zu sogenannten lebenslangen Exklusionsketten dar. Damit ist gemeint, dass die Jugendlichen nach der Schule auch in gesonderte Formen der Ausbildung gehen und somit geringere Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben. Daraus folgen wiederum menschenrechtliche Einschränkungen, wenn es um die Teilhabe an der Gesellschaft geht.

Oft wird auch das Wahlrecht der Eltern als Argument ins Feld geführt. Dann heißt es, dass man Förderschulen beibehalten müsse, damit die Eltern entscheiden können, ob sie ihr Kind an einer Förderschule oder an einer Regelschule unterrichten lassen wollen. Es handelt sich dabei aber um kein gültiges Argument, da es in den meisten Fällen keine Möglichkeit gibt, das Kind auf eine gute inklusive Schule zu schicken, die sich in Wohnortnähe befindet.

Und gibt es Möglichkeiten, den inklusiven Unterricht bundesweit einheitlicher durchzusetzen?

Wenn wir nach 14 Jahren immer noch deutliche Menschenrechtsverletzungen in diesem Bereich sehen, glauben wir, dass der Bund stärker in die Pflicht genommen werden muss, die er mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention eingegangen ist. Wir brauchen eine nachhaltige Gesamtstrategie in Deutschland, deren Kernelement eine stärkere Kooperation von Bund und Ländern sein sollte – natürlich ohne in die Bildungshoheit der Länder einzugreifen.

Der Bund könnte etwa bestimmte Regelungskompetenzen – beschränkt auf die Grundsätze eines inklusiven Schulsystems – bekommen. Wir könnten uns auch eine Vereinbarung zwischen Bund und Ländern vorstellen, also einen Staatsvertrag. In diesem Vertrag könnten Bund und Länder sich gemeinsam und koordiniert verpflichten, konkrete Maßnahmen in einem überschaubaren Zeitraum zu ergreifen, um ein inklusives Schulsystem aufzubauen.

Zur Person

Dr. Susann Kroworsch

Dr. Susann Kroworsch kommt aus Berlin. Sie hat Jura in Berlin, Bordeaux und New York studiert und zum Recht auf Bildung promoviert. Während des Referendariats war sie unter anderem im Sekretariat des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Deutschen Bundestag und im Auswärtigen Amt im Referat Menschenrechtsschutz. Seit 2017 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte.

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