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Interview mit Wolfgang Thierse Der Bonn-Berlin-Umzug: „Das war schon ein Abenteuer!“

Marejke Tammen

Es war eine der kontroversesten und emotionalsten Debatten, die je im Deutschen Bundestag geführt wurden: Die Frage nach dem Sitz von Parlament und Regierung. Wird es Berlin oder bleibt es Bonn? Der spätere Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Thierse (SPD) sprach sich im Jahr 1991 klar für den Umzug des Parlaments nach Berlin aus. Im Interview erinnert er sich an die hitzige Debatte und spricht über die logistischen Herausforderungen, die der Umzug mit sich brachte, der unter seiner Präsidentschaft zu organisieren war.

Ein Mann mit längerem blöden Haar und Bart hebt einen Umzugskarton mit der Aufschrift 'Deutscher Bundestag!.

Als Bundestagspräsident hat Dr. Wolfgang Thierse den Umzug des Deutschen Bundestages organsiert. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Markus Schreiber

Herr Thierse, am 20. Juni 1991 gab es eine historische Debatte im Deutschen Bundestag. Die Abgeordneten diskutierten, ob der Bundestag nach der deutschen Einigung wieder zurück nach Berlin ziehen sollte. Wie erinnern Sie sich an die Debatte?

Es war eine der längsten und spannendsten Debatten, die ich je erlebt habe – sie begann vormittags und ging bis spät abends. Und es war vollkommen offen, ob Bonn oder Berlin gewinnt, denn es gab in dieser Frage keine Fraktionsdisziplin. Besonders eindrücklich fand ich die Reden von den älteren Abgeordneten, die die deutsche Geschichte seit 1945 repräsentierten. Willy Brandt, Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble – sie alle haben gewichtige und emotionale Reden für Berlin gehalten.

Es gab auch einen Kompromissvorschlag, der vorsah, dass nur Bundestag, Bundesrat und das Bundespräsidialamt nach Berlin verlegt werden, die Regierung hingegen in Bonn bleibt. Aber dieser Vorschlag wurde schnell abgelehnt. Und dann ging es tatsächlich um die Entscheidung – Bonn oder Berlin?

Die Debatte dauerte fast zwölf Stunden. Warum war der Umzug so umstritten?

Es gab verschiedene Motive. Eines war das des Gewohnten, des Vertrauten, des Bequemen. Umzuziehen tut immer weh, ist umständlich, lästig und riskant. Das war für viele Abgeordnete ein Grund, für Bonn zu stimmen.

Ein weiteres Motiv waren die Vorurteile gegenüber Berlin. Einige Abgeordnete stellten Berlin als Hauptstadt des preußischen Realismus und des Nazi-Reichs dar – dabei hatten sie offenbar vergessen, dass nicht Berlin, sondern München die Hauptstadt der braunen Bewegung war. Mit dieser fälschlichen Darstellung wurde eine Angst vor dem deutschen Imperialismus und Größenwahnsinn mobilisiert. Ich habe das damals als Übertreibung empfunden. Und ich glaube, ich habe recht gehabt: In den Grundkoordinaten der deutschen Politik ist Berlin heute nicht anders als die damalige Bonner Republik.

Das heißt, Sie haben sich damals für Berlin als Hauptsitz ausgesprochen?

Ja. Und mich haben die Ängste und die politische Abwehr einiger Abgeordneter sehr geärgert. Es ging schließlich nicht um eine Entscheidung, die Bonn schlecht machen sollte.

Sondern?

Sondern darum, dass man nicht 40, 50 Jahre sagen konnte: „Selbstverständlich ist Berlin die wirkliche Hauptstadt und wenn es möglich ist, muss es wieder die Hauptstadt aller Deutschen werden“ – und dann aber in dem Moment, wo es möglich wird, so tut, als sei nichts gewesen. Wir mussten unsere Verpflichtung, die in Bonn vier Jahrzehnte lang immer wiederholt worden ist, einlösen! Wolfgang Schäuble sprach damals sogar von einem Verrat gegenüber Berlin.

Blick in einen vollen Plenarsaal an dessen Rückwand sich ein großer Reichsadler befindet.

Ganze zwölf Stunden lang debattierten die Abgeordneten über die Hauptstadtfrage – damals im Bonner Plenarsaal. © picture alliance / SZ Photo | Rainer Unkel

Zu diesem Verrat ist es schlussendlich nicht gekommen. Mit einer knappen Mehrheit von 338 zu 320 Stimmen votierten die Abgeordneten für den Umzug.

Ja, zum Glück! Diese Entscheidung hat mich sehr erleichtert, denn mein Hauptargument war: Die Politik muss ihr Gewicht nach Berlin, nach Ostdeutschland verlagern, weil sonst das Staatsschiff in Schieflage gerät. Man darf nicht vergessen, dass alle ökonomischen und sozialen Schwergewichte in Westdeutschland lagen. Der Osten war somit der schwächere und leichtgewichtigere Teil Deutschlands. Das Gleichgewicht ließ sich nur herstellen, indem die Politik nach Berlin verlagert wurde. Ein Umzug war somit unausweichlich.

Da fällt mir noch eine Anekdote ein: Ein paar Tage nach dem Beschluss stand ich im Bonner Hauptbahnhof und wartete auf einen Zug. Eine ältere Dame ging im Abstand von ein paar Metern um mich herum, schaute mich an, fasste sich Mut und sagte: „Sie sind doch Herr Thierse. Sie trauen sich ja was, hier zu stehen, nachdem, was Sie uns angetan haben.“ In diesem Moment verstand ich, dass die Bonner von der Pro-Berlin-Entscheidung sehr betroffen waren.

Als es dann so weit war und die ersten Umzugskartons gepackt wurden, waren Sie bereits Bundestagspräsident. Wie haben Sie diesen riesigen Umzug organisiert?

Das war wirklich eine riesige Affäre. Schließlich mussten ganze Institutionen umziehen, für die es Bürogebäude in Berlin brauchte. Aber wir brauchten auch Wohnungen für die vielen Angestellten, die von Bonn nach Berlin zogen. Das war tatsächlich auch eine der größten Aufgaben: Die Menschen in Bonn davon zu überzeugen, dass es sich lohnt nach Berlin zu ziehen.

Aber es stand auch von Anfang an fest, dass wir nicht von heute auf morgen umziehen, sondern erst alle Voraussetzungen erfüllt sein müssen. So kam es, dass der Umzug erst acht Jahre nach dem Beschluss, im Sommer 1999, vollzogen worden ist.  

Hatten Sie die Befürchtung, dass etwas schiefläuft?

Klar, anfangs war ich nervös und befürchtete, dass wir mit dem Bau nicht rechtzeitig fertig werden. Das war schon ein Abenteuer! Aber ich habe schnell gesehen, dass alle Beteiligten sehr gute Arbeit geleistet haben. Kleinigkeiten gingen natürlich schief. Aber grundsätzlich kann der Bundestag sehr stolz sein, dass der Umzug im Zeit- und Kostenplan stattgefunden hat. Das ist eine große politische, aber vor allem planerische und logistische Arbeitsleistung.

Ein Mann in schwarzem Mantel mit hellem Haar und Bart, der ein Brille trägt, hebt einen überdimensional großen Schlüssel in die Luft. Hinter ihm stehen andere Männer in Anzügen und klatschen in die Hände.

Feierlich übergab der Architekt Norman Foster (rechts) am 18. April 1999 Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Thierse den Schlüssel für den Reichstag. © picture-alliance / dpa | Andreas Altwein

Im Zentrum des Umzugs stand der Umbau des Reichstagsgebäudes. Wie hat sich der Moment angefühlt, als Norman Foster, einer der Architekten, Ihnen den Schlüssel übergeben hat?

Das war ein sehr feierlicher Moment! Als Ostdeutscher und Berliner war ich sehr stolz, dass wir es tatsächlich geschafft haben, dass Berlin wieder die wirkliche Hauptstadt ist – und nicht nur den Titel trägt. Alles andere wäre auch eine historische Absurdität gewesen. Ich freue mich daher bis heute, dass ich derjenige gewesen bin, der diesen Umzug vollzogen hat.

Noch heute haben Bundesministerien ihren Erstsitz in Bonn. Aber auch die Ministerien, die ihren Hauptsitz in Berlin haben, haben einen Zweitsitz in Bonn. Das ist auf das Berlin/Bonn-Gesetz zurückzuführen, das am 26. April 1994 vom Bundestag verabschiedet wurde. Warum ist das Gesetz wichtig?

Ich halte die Regelung nach drei Jahrzehnten für unsinnig und überflüssig. Es müssen nicht alle nachgeordneten Behörden nach Berlin umziehen. Aber alle Ministerien müssen ihren Sitz in Berlin haben. Ganz einfach, weil die direkte Kommunikation wichtig ist und Entscheidungen nun mal im Parlament getroffen werden. 

Im Rückblick sagen fast alle, die sich damals für Bonn ausgesprochen haben, dass es gut ist, dass Berlin wieder die Hauptstadt der Republik ist. Bonn geht es ökonomisch gut. Und Berlin ist die widersprüchliche, lebendige, turbulente, chaotische, heftige Hauptstadt geworden, wie es zu erwarten war.

Zur Person

Wolfgang Thierse

…war von 1990 bis 1998 stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Anschließend bekleidete er von 1998 bis 2005 das Amt Präsident des Deutschen Bundestages. Ab Oktober 2005 bis Oktober 2013 war er Vizepräsident des Deutschen Bundestages.

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