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Kevin Kühnert (SPD) „Politik ist wie Mannschaftssport“

Im Bundestag zählt er zu den Neulingen und doch teilt Kevin Kühnert schon mehr als sein halbes Leben mit der SPD. Irina hat ihn in seinem Wahlkreis besucht und im Berliner „Bindestrich-Bezirk“ Tempelhof-Schöneberg getroffen.

Autorin mit Kevin Kühnert

Ungewöhnliche Leere auf dem Wochenmarkt: Der Hitze zum Trotz treffen sich Kevin Kühnert und Irina mittags am Winterfeldtplatz.© Kevin Kühnert

Die Sonne knallt auf den gepflasterten Platz. 37 Grad, die Luft steht. Wo sich sonst Eltern mit ihren Kindern an dicht gedrängten Marktständen vorbeischieben, Studentinnen Schälchen mit eingelegten Oliven in ihre Jutebeutel packen und Rentner ihre Einkäufe in Trolleys hinter sich herziehen, bleibt es an diesem Mittwoch Ende Juli ungewohnt leer.

Nur wenige haben ihre Buden aufgebaut, vereinzelt werfen Pavillons kurze Schatten auf die aufgeheizten Steinplatten. „So leer hab‘ ich den Markt nicht mal im Winter gesehen“, sagt ein Mann Mitte Vierzig, die Kappe tief ins Gesicht gezogen. 12:30 Uhr. Die Glocken der Matthias-Kirche am Rande des Winterfeldtplatzes läuten.

In seinem Revier

Normalerweise sei hier „Highlife“, sagt Kevin Kühnert und schlendert, der Sonne zum Trotz in schwarzem T-Shirt, vorbei an einer Imbissbude mit polnischen Teigtaschen. Der 33-Jährige kennt sich aus in der Gegend. Nicht nur, weil der Platz zu seinem Wahlkreis gehört: Tempelhof-Schöneberg, den er für die SPD im Bundestag vertritt. Kühnert ist im Bezirk großgeworden, lebt hier bis heute. Er in Schöneberg, die Eltern in Tempelhof.

Wir sind an diesem Mittag verabredet, um über seine Arbeit als Abgeordneter zu sprechen. Über seinen Alltag zwischen Plenarsitzungen, Bürgergesprächen und Parteitagen. Und treffen uns dafür an einem der zentralen Orte in Tempelhof-Schöneberg: dem Winterfeldtmarkt. Keine zehn Minuten Fußweg von Kühnerts Wahlkreisbüro entfernt.

Luxuskaufhaus und Ponyhof

Geboren im Jahr des Mauerfalls, am 1. Juli 1989, wächst Kühnert in einer Berliner Beamtenfamilie auf. „Ich bin ein Kind dieses Bindestrich-Bezirks“, sagt er. So bezeichne man jene Bezirke, die wie Tempelhof-Schöneberg Anfang der Nullerjahre zusammengelegt wurden. Und gerät ins Schwärmen: darüber, wie vielfältig sein Wahlkreis sei und bodenständig. Eine Mischung aus Zugezogenen und Alteingesessenen.

Im Norden endet der Bezirk, den Kühnert wegen seiner langgezogenen Form auch „Kaugummi-Wahlkreis“ nennt, am berühmten Luxuskaufhaus KaDeWe. „Richtig urban, innerstädtisch, touristisch.“ Und erstreckt sich von dort bis Lichtenrade an der brandenburgischen Landesgrenze, mit Ponyhof und Einfamilienhäusern. Oben Regenbogenkiez, unten „ein bisschen rustikaler, manchmal auch konservativer“.

Dadurch verliere man nie die Bodenhaftung, sagt Kühnert und läuft langsam die lückenhaft aufgereihten Marktstände ab. „Weil man, je nachdem, ob man gerade im Norden oder Süden ist, immer auch merkt: Es gibt noch ein anderes Leben als das im eigenen Kiez.“

Sport-Nerd

Er selbst kennt beide „Kaugummi-Enden“. In Lichtenrade, dem südlichsten Zipfel des Bezirks, verbringt Kühnert einen Großteil seiner Kindheit. Und in der dreht sich alles um ein Thema: Vereinssport. Seine Eltern sind große Sportfans, die Wochenenden der Familie sind geprägt von Handballspielen und Volleyballturnieren.

Eine Leidenschaft, die Kühnert bis heute packt. Und die ihm hilft, nach einer stressigen Woche den Kopf freizubekommen. Vor allem Mannschaftssport hat es ihm angetan, auch, wenn er sich vor einigen Jahren davon verabschieden musste, selbst im Verein zu trainieren.

Irina und Kevin Kühnert stehen auf einer Wiese, im Hintergrund sind Steinblöcke zu sehen.

Kühnert ist großer Handball-Fan. Die ganze Familie begeistere sich für Sport, sagt er. © Kevin Kühnert

Mehrmals pro Woche Handball-Training, das ging nicht mehr zusammen mit den vielen Dienstreisen und Abendterminen. „Insofern war die Entscheidung für Politik dann auch die Entscheidung, Handball nur noch zu gucken und nicht mehr zu spielen.“ Statt zum Vereinstraining mit dem Team geht er mittlerweile Wandern.

Wie eine Mannschaft

Die Leidenschaft für Mannschaftssport aber ist geblieben. Fährt Kühnert am Wochenende von einem Parteitag oder einer Jahresversammlung mit dem Zug zurück nach Berlin, macht er oft irgendwo unterwegs einen Zwischenstopp, um ein Spiel zu gucken. Egal ob Handball, Fußball oder Volleyball, Oberliga oder Kreisklasse.

Dabei sieht er zwischen der Arbeit auf dem Platz und im Bundestag sogar Parallelen: Beim Mannschaftssport wie in der Politik gehe es darum, „Kompetenzen zu ergänzen, sodass das bestmögliche Ergebnis herauskommt“. Wie in einer Handballmannschaft ein kleiner Spieler auf der Außenposition eingesetzt werde und ein großer im Rückraum – und jeder auf seiner Position das Beste gebe, so sei das in der Politik auch.

„Eine Fraktion“, sagt Kühnert, „ist nichts anderes als eine Mannschaft.“ Niemand könne Experte oder Expertin in allen Bereichen sein. Deshalb brauche es zum Beispiel den Außenpolitikspezialisten ebenso wie die Finanzexpertin.

Kevin Kühnert und Irina gehen über den Winterfeldtplatz

Mag es, der „Dorfschulze“ zu sein: Beim Spaziergang wird Kühnert von Passanten gegrüßt. © Kevin Kühnert

Der Dorfschulze sein

Und während wir uns von Schattenplatz zu Schattenplatz über den Markt hangeln, werfen ihm hin und wieder Passanten ein kurzes „Hallo“ zu. Er lächelt dann und grüßt zurück. „Das ist ja schon auch der Reiz, dass man ein bisschen der Dorfschulze ist.“

Wenn er hier auf der Straße angesprochen werde, gehe es vor allem um Themen aus der Nachbarschaft: Die Leute wollen wissen, was sein Plan wegen des leerstehenden Hauses acht Ecken weiter sei. Warum die eine Straße im Kiez nicht häufiger gereinigt werde.

Oder, wie an diesem Tag, an einem kleinen Stand mit frischem Wassermelonen-Saft: Ob er wisse, wo es in der Nähe ein Geschäft für Tauchzubehör gebe. „Puh“, murmelt Kühnert, „Tauchgeschäft“. Er zögert. Dann zückt er sein Smartphone und fängt an zu googeln.

Manager der Partei

Der Kontakt mit den Menschen vor Ort gehört zu den zentralen Aufgaben eines Abgeordneten im Wahlkreis. Kühnert hat in seiner Partei aber noch einen zweiten Job: Als Generalsekretär kümmert er sich um alles Organisatorische, ist eine Art Manager der SPD. Unter der Woche stehen Parlamentsarbeit und Wahlkreis auf dem Programm, am Wochenende unterstützt er Wahlkämpfe, besucht Parteitage und trifft sich mit Ehrenamtlichen.

Das Amt des Generalsekretärs gehört zu den wichtigsten innerhalb einer Partei. Und es gilt als Sprungbrett, um in der Hierarchie weiter aufzusteigen. Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Finanzminister Christian Lindner, der zugleich FDP-Vorsitzender ist – sie alle hatten den Job inne. Auch Kühnert hat in den vergangenen Jahren eine steile Karriere hingelegt: Mit 28 wird er Chef der Jusos, der Nachwuchsorganisation der SPD, mit 30 stellvertretender Parteivorsitzender, mit 32 Bundestagsmitglied und schließlich Generalsekretär.

Sprung in den Bundestag

Ins Parlament zieht er über ein Direktmandat ein. Er gewinnt 27,1 Prozent der Erststimmen und setzt sich damit gegen die Grünen-Politikerin Renate Künast durch. Seinen Wahlkampf dominiert damals vor allem ein Thema: die Wohnpolitik. „Wenn es etwas gibt, das hier fast alle betrifft, dann das“, sagt Kühnert. „Hier wohnen mehr als 80 Prozent der Menschen zur Miete und fast jeder von denen stellt sich die Frage, wie das bezahlbar bleiben kann oder wieder wird.“

Irina und Kevin Kühnert gehen, im Hintergrund sind parkende Autos zu sehen.

In der Politik brauche man ein dickes Fell, sagt Kühnert, dennoch rät er jungen Leuten, sich zu engagieren. © Kevin Kühnert

Angekommen im Bundestag will er deshalb unbedingt in den Ausschuss für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen. „Da kann ich am meisten für meinen Wahlkreis rausholen“, habe er gedacht. Tatsächlich ist er mittlerweile Berichterstatter seiner Fraktion fürs Mietrecht und sein Ziel, eine Obergrenze für Mieterhöhungen, nach seinen Worten auf einem guten Weg. „In den Koalitionsvertrag haben wir das schon reinbekommen“, sagt er. „Jetzt müssen wir im zweiten Halbjahr noch Gesetzgebung daraus machen.“

Ganz oder gar nicht

Im Bundestag zählt Kühnert zwar zu den Neulingen. Mit der SPD aber teilt er schon mehr als sein halbes Leben: Als Schülersprecher kommt er zum ersten Mal mit Politik in Berührung, macht 2005 ein Praktikum in einem SPD-Kreisbüro und tritt wenig später, mit 15 Jahren, in die Partei ein. Aus dem Hobby wird bald ein Vollzeitjob. Spätestens als er Ende 2017 Juso-Chef wird, ist klar, „dass das jetzt mit Ehrenamt nicht mehr viel zu tun hat“, sagt der 33-Jährige, der nach dem Abitur und einem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) in einer Jugendeinrichtung zunächst ein Publizistik-Studium beginnt und in einem Callcenter arbeitet. Irgendwann müsse man sich entscheiden: Entweder man schaffe den Absprung oder mache die Politik zu seinem Broterwerb. Er lacht und blinzelt gegen das grelle Licht an.

Kühnert entscheidet sich für die Politik. Und wird innerhalb kürzester Zeit zu einem der bekanntesten Gesichter seiner Partei. Er sitzt regelmäßig in Talkshows, gilt als Star der SPD-Linken und ihre größte Nachwuchshoffnung.

Dickes Fell

Die Glocken läuten, es ist 13 Uhr, die Sonne brennt weiter unbarmherzig. In einem Café am Rande des Winterfeldtmarkts zieht Kevin Kühnert eine Fritz-Kola Zero aus dem Kühlschrank. Ob er jungen Menschen heute noch raten würde, in die Politik zu gehen? „Auf jeden Fall“, sagt er. Es brauche Leute, die langfristig und grundsätzlich an politischen Themen arbeiten wollen. „Die sich auch um vermeintlich dröge Sachen wie Haushaltspolitik kümmern. Denn das entscheidet in unserer Gesellschaft nun mal darüber, ob Mittel für wichtige Projekte zur Verfügung stehen oder nicht.“

Klar sei aber auch: Wer in die Politik wolle, brauche ein dickes Fell. „Man muss sich halt auch einfach manchen Blödsinn anhören.“ Ihn nerve vor allem „dieses altväterliche Gehabe“ mit Sprüchen wie: Die sind ja noch grün hinter den Ohren. In unserer Gesellschaft, kritisiert Kühnert, würden Mitte Zwanzigjährige noch immer anders angeschaut als Fünfzigjährige. Er trinkt den letzten Schluck Cola. Dann steht er auf und stellt die leere Flasche auf den Tresen. Und während er noch einmal ein paar Meter über den Markt geht, packen die ersten Händler schon ihre Stände zusammen, verstauen Blumen, Obst und Gemüse in Transportern. Sie alle hoffen wohl auf etwas Abkühlung vor dem nächsten Markttag.

Über Kevin Kühnert

Kevin Kühnert wurde 1989 in Berlin geboren. Nach der Schule machte er ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ), begann ein Studium und jobbte im Callcenter. 2005 trat er in die SPD ein, war ab 2017 Vorsitzender der Jusos Berlin, also der Jugendorganisation der SPD Berlin. Seit 2021 ist Kühnert Mitglied des Deutschen Bundestages und Generalsekretär der SPD. Er ist Mitglied im Ausschuss für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen. Mehr erfahrt ihr auf seinem Bundestagsprofil.

(irs)

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