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DDR-Zeitzeuge „War froh, dass mein Vater heimkam“

Am 17. Juni 1953 spielte Frank Nemetz draußen, als sowjetische Panzer in die Leipziger Innenstadt donnerten. Zum 70. Jahrestag der Ereignisse berichtet er darüber im Deutschen Bundestag. Mit uns hat er vorab gesprochen.

Hier ist eine Foto-Collage zu sehen. Links ist Frank Nemetz abgebildet, wie er die Urkunde der Säch­sischen Verfassungs­medaille hält. Rechts ist auf einem Schwarz-Weiß-Foto der Pavillon der 'Nationalen Front' in Leipzig zu sehen, davor ein Panzer und Demonstranten.

1953 ging man auch in Leipzig gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Frank Nemetz hält die Erinnerungen wach, 2023 bekam er dafür das Bundesverdienstkreuz. © privat/picture-alliance / AKG

Sie wurden 1944 in Sachsen geboren. Was war das für eine Zeit, in der Sie groß geworden sind?

Leipzig wurde 1945 von Amerikanern befreit. Damit waren damals einige Hoffnungen auf Demokratie verbunden. Aber nach wenigen Wochen zogen die Amerikaner ab und dann übernahmen die sowjetischen Soldaten das Gebiet.

Für uns fing damit eine schwierige Zeit an. Von Stalin gab es den Befehl zur „Säuberung des Hinterlandes der kämpfenden Truppen der Roten Armee von feindlichen Elementen”. Viele Leute wurden verhaftet, oft unter dem Vorwurf der Korruption oder weil ihnen unterstellt wurde, sie würden der Werfwolf-Organisation – einer nationalsozialistischen Organisation – angehören. Die Rote Armee nutzte teilweise ehemalige Konzentrationslager als Speziallager, beispielsweise Sachsenhausen und Buchenwald.

1950 wurde das Ministerium für Staatssicherheit, die Stasi, gegründet – von uns später „Horch und Guck“ genannt. Überall wurde man bespitzelt. Beispielsweise hatte das Haus, in dem ich gewohnt habe, wie viele andere Häuser, einen sogenannten Hausvertrauensmann, der auf alles aufgepasst hat: Er hat zum Beispiel im Hausbuch vermerkt, wer zu Besuch kam. Trotzdem allem: Zunächst wurde noch an die Einheit geglaubt.

Als es im Juni 1953 zu den Aufständen in der DDR kam, waren Sie knapp neun Jahre alt. Wie haben Sie den 17. Juni 1953 erlebt: An was können Sie sich erinnern?

Der 17. Juni war ein schöner Sommertag. Mein Vater ist morgens früh in seinen Betrieb aufgebrochen. Es herrschte eine komische, angespannte Stimmung. Wir Kinder gingen auf die Straße zum Spielen. Irgendwann hörten wir ein unheimliches Dröhnen und sahen die sowjetischen Panzer die Straße herunterdonnern.

Wir haben erst im Nachhinein erfahren, dass die Arbeiter alle schon früh angefangen hatten zu streiken. Die Panzer fuhren in die Innenstadt, mein Vater war auch dort. Die Demonstranten hatten einige Häuser besetzt, zum Beispiel Häuser der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der Jugendorganisation in der DDR. Die Protestierenden schmissen dort alles, was sie finden konnten, aus den Fenstern. Rund 27.000 Arbeiter aus 81 Betrieben sind auf die Straße gegangen. Insgesamt waren 40.000 Menschen in der Innenstadt unterwegs.

Außerdem sind die Demonstranten in die Beethovenstraße marschiert, dort war die Haftanstalt der Stasi, der Staatssicherheit. Sie wollten die politischen Häftlinge befreien, was aber nicht gelungen ist. Die sowjetischen Soldaten und die Stasi-Offiziere kamen relativ zügig und gaben Warnschüsse ab. Die Demonstranten sind zunächst auseinandergerannt. Aber später versuchten sie erneut vorzudringen. Dabei wurde der 19-jährige Gießer Dieter Teich erschossen. Anschließend wurde der Tote auf einer Trage in einem Schweigemarsch durch die Stadt getragen, bis zum Hauptbahnhof. Auf dem Marktplatz haben Jugendliche den Pavillon der „Nationalen Front“ in Brand gesetzt. Die „Nationale Front“ war ein Zusammenschluss der Parteien und Organisationen in der DDR.

Und um 16 Uhr wurde das Kriegsrecht und der Ausnahmezustand in Leipzig verhängt. Damit waren alle Demos verboten und es gab eine Sperrstunde zwischen 21 Uhr und 5 Uhr früh. Wer sich nicht daran hielt, dem drohten militärischen Maßnahmen. Dadurch lösten sich die Proteste auf.

Mein Vater ist abends glücklicherweise wieder nach Hause gekommen. Obwohl ich als Neunjähriger nicht in Gänze begreifen konnte, was passiert war, war ich sehr froh, dass ihm nichts passiert war. Am nächsten Tag bin ich in die Stadt gegangen und habe mir die Verwüstung überall angeschaut. Wenn man mit einem Panzer durch die Straßen fährt, hinterlässt das schlimme Spuren. Insgesamt gab es in Leipzig im Zusammenhang mit dem Aufstand neun Tote.

1968 sind Sie als junger Mann selbst einmal von der Staatssicherheit festgenommen worden. Wie kam es dazu?

Ich hatte einen guten Freund, dessen Mutter es geschafft hatte, in den Westen zu flüchten. Sie hatte aber ihre drei Kinder im Osten zurückgelassen, für die sie später gefälschte Reisepässe organisierte. Mein Freund und seine zwei Geschwister wollten nun ebenfalls die Flucht in den Westen wagen. Aber mein Freund wurde vorher verhaftet. Die Pässe kamen allerdings erst hinterher bei seiner Schwester an. Und die hat Angst bekommen und mich gebeten, die Pässe zu verstecken.

Dummerweise habe ich ihr den Gefallen getan. Kurz darauf wurde auch die Schwester verhaftet und hat ausgesagt, dass sie mir die Pässe gegeben hat. In meiner Panik habe ich die Pässe verbrannt und das wurde mir zum Verhängnis. Die Offiziere glaubten mir nicht und waren überzeugt, dass ich die Dokumente für mich benutzen wollte.

Ich wurde acht oder neun Monate in Untersuchungshaft genommen, eingesperrt in einer Einzelzelle. Es war genauso so, wie es in den Filmen gezeigt wird. Tagsüber durfte man sich nicht auf die Pritsche setzen oder legen. Und beim Verhör, das meistens nachts stattfand, musste ich mich mit den Schenkeln auf die Hände setzen, bis es weh tat.

Wie sind Sie da wieder herausgekommen?

Bei der Gerichtsverhandlung wurde ich zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Meine Eltern hatten aber einen Anwalt organisiert, der in Berufung ging. Und das Oberste Gericht hat das Urteil als eines der ganz wenigen aufgehoben. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah: So wie ich ins Gefängnis reinkam, bin ich rausgekommen. Plötzlich kam man zu mir und sagte „Packen Sie Ihre Sachen“ und zack, war ich draußen.

Wie ging es danach für Sie weiter?

Nach meiner Haft hatte ich Glück: Ich durfte zweimal studieren und habe einen guten Posten bekommen, obwohl ich nicht der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) angehörte. Ich hatte einen Chef, den ich mochte und der mich mochte. Später habe ich erfahren, dass er ein sogenannter Offizier in besonderem Einsatz – ein OiBe – war, also ein Mitarbeiter der Stasi. Der war wie ein Schutzschirm für mich.

1988 hatte ich erstmals einen Antrag gestellt, um meine Tante im Westen zu besuchen. Mein Chef hat das genehmigt, aber ich musste ihm versprechen, zurückzukommen. Da war ich also das erste Mal im Westen und bin aus allen Wolken gefallen, wie anders es dort war. Gleichzeitig war ich sicher, dass ich den Westen so schnell nicht wiedersehen würde.

Aber es kam anders. 1989 kam es zur Friedliche Revolution. Wie haben Sie dieses Ereignis erlebt?

Meine Frau und ich haben jeden Montag an den Friedensgebeten an der Nikolaikirche teilgenommen. Dann kam der 9. Oktober und auf einmal waren 70.000 Menschen in der Innenstadt versammelt. Wir hatten extra noch Turnschuhe angezogen, damit wir schnell wegrennen könnten, falls das notwendig werden sollte.

Jeder Betrieb hatte damals sogenannte Kampfgruppen, die mit Maschinenpistolen ausgestattet waren. In den Betrieben wurde gesagt, dass wir nicht in die Stadt dürften. Wir haben uns aber trotzdem alle dort versammelt. Die Kampfgruppen waren auch draußen unterwegs, wurden aber irgendwann abgezogen.

So ging es jeden Montag, bis am 9. November plötzlich die Mauer geöffnet wurde. Das war unbeschreiblich.

Am 10. November haben wir uns ins Auto gesetzt und sind in den Westen gefahren. Es gab eine Autoschlange von 50 Kilometern und wir haben zwölf Stunden gestanden. Aber wir haben uns gedacht: Was sind schon zwölf Stunden gegen 40 Jahre?

Anschließend sind wir jedes Wochenende nach Westberlin gefahren. Und an der Mauer hinter dem heutigen Reichstagsgebäude habe ich mir mit einem Hammer ein paar Stücke der Mauer abgeklopft.

Zur Person

Frank Nemetz

Frank Nemetz wurde 1944 im sächsischen Brandis geboren. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges gingen Frank Nemetz und seine Mutter nach Leipzig. Nach der Schule machte er eine Ausbildung zum Chemielaboranten, später studiert er an der Hochschule für Bauwesen Leipzig und arbeitet beim VEB Kombinat Gießereianlagenbau und Gußerzeugnisse (GISAG) Leipzig. Nach der Wende war Nemetz beim Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) veschäftigt. Seit 2009 widmet er sich ehrenamtlichen Tätigkeiten. So ist er zum Beispiel im Beirat der Stiftung Säch­­sische Gedenk­stätten und er ist in Sachsen Landesvorsitzender der Vereinigung der Opfer des Stalinismus.

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