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AUSLANDS-SERIE: TÜRKEI „Mit Vollgas gegen das europäische Menschenrechtssystem“

Yasemin Kamisli

Wie arbeiten Parlamentarier anderer Länder? Abgeordnete des Bundestages treffen regelmäßig Kollegen aus aller Welt. mitmischen.de fragt nach – heute bei dem Vorsitzenden der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe Max Lucks (Bündnis 90/Die Grünen).

Portrait des Abgeordneten Max Lucks

„Die parlamentarische Demokratie hat in der Türkei nicht mehr die Machtstellung, die sie einmal hatte“, sagt Max Lucks. © Max Lucks / Fotograf: Dominik Butzmann

Wie funktioniert der Parlamentarismus in der Türkei? Welche Unterschiede gibt es zu Deutschland?

Die Türkei hat ein ganz anderes Wahlsystem – vielleicht sogar eins, von dem wir lernen könnten vor dem Hintergrund, dass der Bundestag verkleinert werden soll, da er zu groß ist. In der Türkei gibt es nämlich viel größere Wahlkreise und innerhalb dieser gibt es Parteilisten, über die Mandate vergeben werden.

Gleichzeitig hat die parlamentarische Demokratie in der Türkei nicht mehr die Machtstellung im System, die sie einmal hatte. Im April 2017 wurde die türkische Verfassung per Referendum umfassend reformiert und seitdem ist das Parlament nicht mehr so stark gegenüber der Regierung. Es geht Richtung präsidiales System. In diesem kann beispielsweise per Dekret regiert werden, was in Deutschland unvorstellbar wäre. Hier brauchen wir nämlich immer die Zustimmung des Parlaments.

Was unsere Arbeit zudem teilweise erschwert, ist, dass wir nicht in der Lage sind, mit allen Parlamentarierinnen und Parlamentariern in der Türkei zu reden – denn einige von ihnen sitzen aus politischen Gründen in Haft.

Landkarte der Türkei und Nachbarstaaten

Die Türkei liegt zum Teil in Asien und zu einem deutlich kleineren Teil in Europa. © Google Maps

Welche Themen beschäftigen Sie in der Gruppe derzeit am meisten?

Demokratie lebt von Verständigung. Das ist eines unserer Ziele als Parlamentariergruppe – wir möchten das Gespräch mit allen Teilen der türkischen Gesellschaft suchen, von der Regierung über die Opposition bis hin zur Zivilgesellschaft. Es ist uns bewusst, dass die Türkei nicht einfach irgendein Nachbarland Europas im Südosten ist, sondern dass sie ein integraler Bestandteil Europas ist. Das sehen wir beispielsweise daran, dass die Türkei länger Mitglied des Europarates ist als Deutschland. Darum sind uns diese Brücken sehr wichtig.

Wir haben auch große Hoffnung, dass sich die Türkei wieder stärker Richtung Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten entwickelt – damit wir die Beziehung zwischen der Europäischen Union und der Türkei vertiefen können. Es ist erschütternd zu sehen, dass die Türkei mit Vollgas gegen das europäische Menschenrechtssystem rast.

Thematisch beschäftigt uns außerdem die Währungskrise und ihre Auswirkungen. Und natürlich konnte man sich in den letzten Wochen nicht mit der Türkei beschäftigen, ohne auch über die Nato-Beitrittsperspektive von Schweden und Finnland zu sprechen.

Worum ging es da genau?

Angesichts der Bedrohungslage durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine haben Schweden und Finnland beschlossen, Mitglieder des Verteidigungsbündnisses Nato werden zu wollen. Die Türkei hatte sich dem zunächst in den Weg gestellt und behauptet, dass Schweden und Finnland angeblich internationale Terrororganisationen unterstützten. Jedoch kam es letztendlich durch den Druck der Türkei in dieser sicherheitspolitischen Notlage zu einem Kompromiss: Schweden, Finnland und die Türkei unterzeichneten ein Memorandum, das zum Beispiel beinhaltet, die bestehende Arbeit gegen Terrororganisation zu intensivieren.

Wie erleben Sie das öffentliche Interesse in Deutschland an der Türkei und umgekehrt?

Ich erlebe in Deutschland schon Interesse an der Türkei, aber ich habe oft das Gefühl, dass wir uns dabei ein bisschen über die Türkei stellen. Dazu haben wir überhaupt keinen Anlass. Die Türkei ist eins unserer wichtigsten Partnerländer. Das erleben wir allein schon durch die Verflechtungen beider Gesellschaften. Richtig wäre, eine klare Haltung zu haben, aber anzuerkennen, wie vernetzt unsere Gesellschaften miteinander sind. Daraus leitet sich eine besondere Verantwortung ab. Wir werden als Deutschland nicht einen Weg des Fortschritts gehen können, wenn wir nicht auch die Türkei auf einem Weg des Fortschritts unterstützen. Im öffentlichen Interesse müsste das häufiger vorkommen.

Natürlich bringt das eine Verantwortung mit sich, auch manches klar anzusprechen, etwa durch die Türkei ausgeübte Menschenrechtsverletzungen oder völkerrechtswidrige Kriegseinsätze wie in Nordsyrien oder dem Irak. Von türkischer Seite erlebe ich ein großes öffentliches Interesse an Deutschland – manchmal auch eine große Hoffnung, die in Deutschland gesetzt wird.

Hatten Sie einen persönlichen Bezug zur Türkei, bevor Sie den Vorsitz übernahmen?

Im Sinne von Verwandtschaft habe ich keinen persönlichen Bezug zur Türkei. Aber ich komme aus dem Ruhrgebiet: Ich lebe in Bochum-Stahlhausen, wo Türkisch die Muttersprache von zwanzig bis dreißig Prozent der Kinder ist. Man kann nicht aus dem Ruhrgebiet kommen, ohne ein Interesse für die Türkei zu entwickeln. Mir geht es darum, die Menschen hier zu vertreten und immer wieder deutlich zu machen, dass uns die Entwicklung in der Türkei beschäftigen muss – weil sie in unserem nationalen Interesse liegt.

Gab es etwas, dass Sie an der Arbeit in der Parlamentariergruppe überrascht hat?

Beeindruckt hat mich, dass ich als Vorsitzender wirklich ernst genommen werde. Ich dachte, das könnte schwieriger werden, insbesondere bei älteren Kollegen im Bundestag. Aber da habe ich einen großen Rückhalt in meiner Parlamentariergruppe und auch von meinen stellvertretenden Vorsitzenden. Das ist eine wichtige Grundlage, um eine Vielzahl an diplomatischen Gesprächen zu führen.

Haben Sie einen Reise-Tipp in der Türkei?

Die Türkei ist ein Land, was viel europäischer ist als wir manchmal glauben. Ich finde, das sieht man am besten in Kadiköy, das ist ein wunderschöner Stadtteil von Istanbul, der sehr bunt und lebendig ist. Aber das erlebt man auch in vielen anderen Städten in dem Land, zum Beispiel in Izmir oder Ankara. Es lohnt sich wirklich, gerade als Deutscher, nicht unbedingt nur in die All-Inklusive-Gegenden zu reisen.

Zur Person

Max Lucks, 1997 geboren, hat Sozialwissenschaft studiert. 2011 trat er der Grünen Jugend bei, 2013 der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Seit 2021 sitzt er für die Grünen im Deutschen Bundestag, ist dort Obmann im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung. Mehr erfahrt ihr auf seinem Profil auf bundestag.de.

Zur Person

Porträtfoto von Yasemin
Mitmischen-Autorin

Yasemin Kamisli

... studiert in Frankfurt am Main und setzt sich für die Sichtbarkeit von diversen Lebensrealitäten ein.

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