Interview mit dem Soziologen Joris Steg „Angriffe gegen Politiker sind eine Gefahr für die Demokratie“
Yasemin Kamisli
Immer öfter werden Politikerinnen und Politiker bedroht und angegriffen – auch Personen, die sich ehrenamtlich politisch engagieren, sind davon betroffen. Deshalb ziehen sich einige aus der Politik zurück. Soziologe Joris Steg von der Universität Wuppertal ordnet dies im Gespräch mit mitmischen-Autorin Yasemin als gefährlich ein.
In jedem Fall sind Angriffe gegen Politiker eine Gefahr für die Demokratie. Wir sehen, dass Berufspolitiker angegriffen werden. Daneben werden aber häufig auch Kommunalpolitiker, die das ehrenamtlich machen, Opfer von Anfeindungen und Gewalt – online sowie im Alltag auf der Straße. Das ist eine Bedrohung für die Demokratie als Staats- und als Lebensform. Das Ehrenamt bildet ein entscheidendes Fundament für eine funktionierende Demokratie und dieses darf in keiner Weise angegriffen werden.
Joris Steg
…ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Bergischen Universität Wuppertal. Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Soziale Ungleichheit sowie politische Ökonomie.
Es ist leider kein neues Phänomen, dass Politikerinnen und Politiker, die sich für die Demokratie einsetzen, angegriffen werden. Die Zahlen des Bundeskriminalamtes und weitere Studien zeigen, dass diese Gewalt zunimmt. Und das ist ernst zu nehmen – insbesondere ist die Frage zu stellen, von wem diese Gewalt ausgeht und wo sie verbreitet wird.
Nein, sind sie nicht. Man muss immer darauf achten, welche Statistiken wie betrachtet werden: Schaut man sich nur die angezeigten Taten oder auch die verurteilten Angriffe an? Aus dem Verfassungsschutzbericht geht hervor, dass die größte Gewalt weiterhin von rechts kommt. Natürlich werden auch AfD-Politiker angegriffen, das ist genauso zu verurteilen. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser spricht von einer „neuen Dimension antidemokratischer Gewalt“. Wir sehen, dass die meisten Angriffe auf demokratische Parteien und deren Politiker verübt werden. Dass dies auch tödlich enden kann, zeigte der Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke.
Politiker mit sichtbarem Migrationsbezug sind definitiv nochmal anders bedroht. Diaby sagte zwar oft, dass ihm der Hass nicht so nahe gehe, doch jetzt ist auch sein Team von rechter Hetze bedroht. Weil er das nicht mehr verantworten möchte, kandidiert er nicht mehr für den Bundestag. Das zeigt, dass die Einschüchterungstaktik funktioniert. Und das ist ein großes Problem.
Ich bin der Meinung, dass es keine Strafrechtsverschärfung braucht. Eine konsequentere Verfolgung schon. Die Instrumente, die wir in Deutschland dafür haben, reichen prinzipiell aus. Da muss dann auch etwas getan werden. Es kann nicht sein, dass sich manche Prozesse über Jahre ziehen. Oder dass Polizei und Staatsanwaltschaft gewissen Fällen nicht mehr nachgehen, weil das Personal fehlt. Politiker vor Gewalt zu schützen, ist nicht nur eine Aufgabe für die Justiz, sondern auch für die Politik und die Gesellschaft.
Diese Gewalt entsteht ja nicht in einem luftleeren Raum. Wir leben seit vielen Jahren in Krisenzeiten, angefangen mit der Finanzkrise im Jahr 2007/2008, der sogenannten „Flüchtlingskrise“, dann kam Corona, wir haben Probleme mit der Infrastruktur in ländlichen Gegenden – viele Menschen sind frustriert und fühlen sich nicht abgeholt. Gleichzeitig werden Hass und Hetze immer präsenter, was natürlich auch Angst und Sorgen in der Bevölkerung auslöst. Wir beobachten eine Radikalisierung der Ränder und auch im Netz. Wenn sich der politische Diskurs so verschiebt, wird der Weg von Worten zu Taten leider kürzer. Es ist schwierig, in dieser Komplexität eine einfache Lösung zu finden.
Oftmals ist es leider so, dass Hass im Netz erst gar nicht angezeigt wird. Zum Glück gibt es schon länger gemeinnützige Organisationen wie HateAid, die dieser Entwicklung entgegenwirken. Es ist viel einfacher geworden, hinter einem verdeckten Namen online anonym Hetze zu verbreiten. Die Gefahr dabei ist, dass sich einige Gruppierungen dadurch gegenseitig stärken und im schlimmsten Fall auch im echten Leben aktiv werden. Deshalb muss die Gesellschaft solidarisch und wachsam sein.
HateAid
…ist eine gemeinnützige GmbH zur Beratung und Unterstützung von Betroffenen von Online-Hassrede und Hass-Kommentaren. Die Organisation ist unabhängig und überparteilich. Sie wurde im Jahr 2017 gegründet und sitzt in Berlin. „Mit unserer Arbeit wollen wir Meinungsfreiheit und Demokratie in digitalen Räumen langfristig schützen und stärken“, sagt die Geschäftsführerin Anna-Lena von Hodenberg.
Es ist natürlich besorgniserregend, aber durchaus nachvollziehbar, wenn Menschen abgeschreckt werden und gar nicht erst anfangen, politisch aktiv zu werden. Die Demokratie und die offene Gesellschaft leben davon, dass sich Menschen engagieren – es ist wichtig, dass sich niemand von dieser Gewalt einschüchtern lässt.
Übrigens!
Mit einer geplanten Änderung des Bundesmeldegesetzes sollen Mandatsträgerinnen und Mandatsträger sowie diejenigen, die für den Bundestag kandidieren, besser geschützt werden. Bisher musste dieser Personenkreis die eigene Privatadresse und das Geburtsdatum öffentlich machen. Geplant ist nun, dass nur noch der Wohnort und das Geburtsjahr öffentlich einsehbar sein müssen. Über die Gesetzesänderung wird am 26. September 2024 erstmalig im Deutschen Bundestag beraten werden.
Yasemin Kamisli
…, Jahrgang 2001, ist in Frankfurt am Main geboren und aufgewachsen. Erste journalistische Erfahrungen sammelte sie bei der Frankfurter Rundschau, der Jugendpresse Deutschland, dem Mediendienst Integration und beim Hessischen Rundfunk. Studiert hat sie Amerikanistik und Ethnologie an der Goethe Universität in Frankfurt. Seit Oktober 2023 ist sie Journalistenschülerin bei der Rheinischen Post.