Jessica Rosenthal (SPD) „Schulschließungen waren ein Fehler“
In der Coronapandemie haben Schüler wochenlang Distanzunterricht erlebt. „Längst nicht alle hatten die nötige Ausstattung“, sagt Jessica Rosenthal (SPD) im Interview. Zu Beginn der Pandemie unterrichtete sie als Lehrerin.
Durch die Maßnahmen im Zuge der Coronapandemie, vor allem die Schulschließungen, kam es zu Unterrichtsausfällen. Verpasster Stoff konnte oft nicht nachgeholt werden. Anhand welcher Kriterien bewerten Sie als Abgeordnete mögliche Defizite bei den Schülern?
Bevor ich in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, habe ich als Gesamtschullehrerin gearbeitet. Somit habe ich in den ersten Monaten der Pandemie den Distanzunterricht miterlebt. Ich weiß, dass längst nicht jedes Kind die nötige Ausstattung hatte, um am digitalen Unterricht teilzunehmen. Die Nachteile, die dadurch für viele Schüler und Schülerinnen entstanden sind, ließen sich von den Lehrkräften nicht mehr auffangen. Die Auswirkungen habe ich selbst noch gespürt und viele Kolleginnen und Kollegen haben mir berichtet, dass gerade 2021 erhebliche Lernlücken bei den Schülern entstanden sind – besonders in Fächern wie Deutsch, Englisch oder Mathematik. Aber auch die Treffen mit Freunden sind oft zu kurz gekommen.
Dies bestätigt auch eine Studie der Technischen Universität Dortmund aus dem März 2022: Die Ergebnisse zeigen einen Lernrückstand, der im Mittel bei einem halben Jahr liegt. Ganz besonders betrifft das den Bereich der Lesekompetenz. Außerdem erwies sich in der Studie, dass Kinder mit fehlender technischer Ausstattung, aber auch solche mit Migrationshintergrund unter den Lockdowns besonders gelitten haben und größere Lernrückstände aufweisen. Das sind alarmierende Ergebnisse.
Wie schätzen Sie als Lehrerin die Folgen der Unterrichtsausfälle und Lockdowns für Kinder und Jugendliche ein? Was macht den Jugendlichen am meisten Probleme?
Die psychischen Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche sind enorm. Das berichten mir junge Menschen, aber auch Eltern immer wieder. Es war ein Fehler, die Schulen so lange zu schließen, denn damit fielen soziale Kontakte und somit ein elementarer Bestandteil des Alltags von Kindern und Jugendlichen weg.
Der Digitalunterricht hat bestehende Chancenungleichheiten noch verstärkt, denn längst nicht alle Schüler und Schülerinnen haben zu Hause stabiles WLAN oder Zugriff auf einen eigenen Laptop oder ein eigenes Tablet. Und in beengten Wohnverhältnissen ohne eigenes Zimmer fällt das Lernen auch deutlich schwerer. Aus diesen Gründen darf es nicht noch mal zu Schulschließungen kommen, denn die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche sind verheerend.
In der Großen Anfrage der Union wird die Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) kritisiert. Unter anderem weil das Corona-Aufholprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ auslaufen wird. Warum wird das Programm nicht verlängert?
Mit dem Programm „Aufholen nach Corona“ haben wir zwei Milliarden Euro für 2021 und 2022 zur Verfügung gestellt, um kurzfristig Nachhilfeangebote, aber auch Angebote der Kinder- und Jugendarbeit und andere Angebote für junge Menschen zu fördern. Mit dem Programm konnte eine Vielzahl ganz verschiedener Angebote gefördert werden, um die Folgen der Pandemie zu bewältigen. Jetzt geht es darum, die Förderung solcher Angebote zu verstetigen und vor allem im Bildungsbereich wichtige Investitionen auf den Weg zu bringen. Dazu brauchen wir ein neues Programm.
Deshalb planen Sie das sogenannte Startchancen-Programm. Was haben Sie damit vor?
Mit dem Startchancen-Programm wollen wir gezielt Schulen unterstützen, die besondere Förderung brauchen. Gerade Schulen mit vielen Schülerinnen und Schülern aus sozial benachteiligten Familien brauchen ganz besondere Unterstützung. Deswegen müssen wir diese Schulen gezielt fördern, indem wir investieren, wo es längst überfällige ist: beispielsweise in unsere Schulgebäude. Es sollte sich niemand mehr vor Schultoiletten ekeln und neben zugigen Fenstern frieren müssen. Darüber hinaus stellen wir diesen Schulen verstärkt Schulsozialarbeiter zur Verfügung. Mit diesem Programm unterstützen wir die Schulen, die unsere Hilfe besonders brauchen. Die Erfahrungen aus dem Programm „Aufholen nach Corona“ nehmen wir mit auf: Gerade die Stärkung der Schulsozialarbeit ist sehr wichtig, um die Schulen bei der Bewältigung der psychosozialen Folgen der Pandemie zu unterstützen.
Im Zusammenhang mit der Pandemie ist oft von „psychosozialen Folgen“ die Rede. Damit ist etwa gemeint, dass Jugendliche lange keine Freunde treffen konnten und psychisch stark belastet waren. Kann man für solche Erfahrungen einen Ausgleich schaffen?
Ob Kindergeburtstage, Klassenfahrten, Austauschprogramme oder Abi-Bälle: Das alles haben junge Menschen in den letzten zwei Jahren nicht erleben können und das hinterlässt Spuren. Diese entgangenen Erfahrungen werden wir nie ersetzen können. Umso wichtiger ist aber, dass wir die psychischen Folgen der letzten zwei Jahre bestmöglich auffangen und Kinder und Jugendliche damit nicht allein lassen.
Zur Person
Jessica Rosenthal wurde 1992 in Hameln geboren. Sie studierte in Bonn Geschichte und Deutsch auf Lehramt. Nach dem Referendariat arbeitete sie als Gesamtschullehrerin. 2021 zog sie in den Bundestag ein. Rosenthal ist Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Mehr erfahrt ihr auf ihrem Profil auf bundestag.de.
(Mira Knauf)