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Experte Andreas Peichl „Bildung ist bestes Mittel gegen Armut“

Wie misst man eigentlich Armut? Und warum sind besonders Kinder oft von Armut betroffen? Diese und andere Fragen hat Wirtschaftsexperte Andreas Peichl beantwortet.

Porträt von Andreas Peichl

„Es ist wichtig, die Gründe zu finden, warum mehr Menschen arm sind“, erklärt der Forscher Andreas Peichl. Nur dann könne man passende Lösungen finden. © Andreas Peichl

Die Armut in Deutschland hat zugenommen, das zeigt ein neuer Bericht: Mit 16,6 Prozent hat die Armutsquote einen neuen Rekord erreicht. Woran liegt das und hat es auch mit der Pandemie zu tun?

Die Pandemie spielt sicherlich eine Rolle, die Arbeitslosigkeit ist leicht gestiegen, viele Menschen waren in Kurzarbeit und einige Selbständige hatten große Einkommenseinbußen. Das erhöht die Armut.

Es gibt aber vermutlich auch noch einen anderen Grund. Es fällt nämlich auf, dass die Anzahl der Personen, die Hartz IV erhalten weiterhin rückläufig ist. Hartz IV nennt man das Arbeitslosengeld II, das Menschen bekommen, die längere Zeit arbeitslos sind. Dass weniger Menschen Hartz IV bekommen, könnte eigentlich ein Hinweis darauf sein, dass sich die finanzielle Situation dieser Menschen gebessert hat.

Warum ist also die Armutsquote trotzdem gestiegen? Wir wissen es nicht genau, aber die Daten, auf deren Basis die Armutsberechnungen durchgeführt werden, wurden 2020 massiv verändert. Diese Veränderungen beziehen sich zum Beispiel darauf, wie die Daten erhoben wurden. Die aktuellen Daten sind daher mit den früheren Werten nicht vergleichbar. Man könnte also vermuten, dass die Armut auch früher schon einmal höher war, das aber in den Daten nicht richtig erfasst wurde.

Dem Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands zufolge ist die Armutsquote unter Kindern und Jugendlichen besonders hoch, sie liegt bei 20,8 Prozent. Warum ist das so?

Das hat unterschiedliche Gründe. Zunächst wird das Einkommen der Eltern in Haushalten mit (vielen) Kindern auf mehrere Personen verteilt und ist damit pro Kopf niedriger. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Haushalt unter eine bestimmte Grenze, also etwa die Armutsschwelle, fällt. Solche Schwellen werden von Forschenden oder in der Politik mithilfe verschiedener Methoden festgelegt.

Der zweite Grund ist, dass je nach Alter der Kinder und der jeweiligen Betreuungssituation oft nur ein Elternteil Vollzeit arbeiten und entsprechend Geld verdienen kann. Dadurch reduziert sich zusätzlich das Einkommen, das dann trotzdem auf mehrere Köpfe verteilt werden muss.

Wie misst man denn eigentlich Reichtum und Armut in einer Gesellschaft?

Da gibt es unterschiedliche Herangehensweisen. Erstmal muss man einen Weg finden, wie man die Lebenssituation von Menschen überhaupt miteinander vergleichen kann. Normalerweise schaut man sich an, wie das Einkommen – manchmal auch Vermögen – in der Bevölkerung verteilt ist. Dazu arbeitet man mit dem sogenannten Nettoäquivalenzeinkommen. Hier wird nicht nur das gesamte Einkommen einer Familie betrachtet, sondern es wird in Zusammenhang gesetzt mit der Anzahl an Menschen, die in diesem Haushalt leben und mit ihrem Alter. Denn auch wenn zwei Elternpaare auf dem Papier ähnlich viel verdienen, haben sie vielleicht durch ihre Lebensumstände ganz unterschiedliche Kosten zu tragen.

Zum Beispiel hat ein Paar, das mit zwei erwachsenen Kindern zusammenlebt, andere Ausgaben als ein Paar mit zwei Kleinkindern. Damit sich unterschiedliche Haushalte besser vergleichen lassen, berechnet man das Nettoäquivalenzeinkommen.

Ok, das Nettoäquivalenzeinkommen klingt ja schon ganz schön kompliziert. Und wie kann man dann Aussagen über Armut oder Reichtum treffen?

Dafür definiert man eine Schwelle, ab der man als „arm“ oder „reich“ gilt. Auch hier gibt es unterschiedliche Herangehensweisen. Beispielsweise könnte man einen festen Wert nehmen, also etwa eine Million Euro als Reichtumsschwelle oder zwei Dollar pro Tag als Armutsschwelle festlegen.

Oder aber man schaut sich dazu noch das Verhältnis zum sogenannten mittleren Einkommen an. Das mittlere Einkommen ist das Einkommen, das genau in der Mitte aller Einkommen in einer Gesellschaft liegt: Es gibt in beide Richtungen gleichviele Haushalte, die ein niedrigeres beziehungsweise höheres Einkommen haben. Diesen Wert nennt man auch Median. Man könnte demnach sagen, dass jemand als „arm“ gilt, wenn er weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens hat und als „reich“, wenn er mehr als das Doppelte hat.

In dem Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands gilt jede Person als arm, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Können Sie uns erklären, was das konkret bedeutet?

Es gibt eine sogenannte Armutsgefährdungsschwelle. Wir sehen uns dafür das Einkommen aller Haushalte einer Gesellschaft an, dann finden wir das Einkommen, das genau in der Mitte liegt. Und wer davon weniger als 60 Prozent einnimmt, gilt als armutsgefährdet.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass unmittelbar auch eine direkte Not wie Hunger oder Obdachlosigkeit vorliegt. Ein Einkommen unterhalb der Schwelle ist zunächst einmal lediglich ein Hinweis darauf, dass die Person von Armut betroffen sein könnte.

Was kann die Politik gegen den Anstieg der Armut tun?

Zuerst ist es wichtig, die Gründe zu finden, warum in Deutschland mehr Menschen arm sind. Liegt es daran, dass viele hierzulande arbeitslos sind? Oder haben sie wegen der Pandemie weniger Geld? Wurden womöglich mehr Kinder geboren? Oder sind die Renten zu niedrig?

Je nach Diagnose kann man sich dann die passende Therapie überlegen. Zum Beispiel können Unterstützungsleistungen wie das Arbeitslosengeld angepasst oder die kostenlose Kinderbetreuung ausgebaut werden, damit beide Elternteile Geld verdienen können.

Langfristig ist und bleibt jedoch Bildung das beste Mittel gegen Armut. Denn mit guter Bildung hat man die besten Chancen, auf dem Arbeitsmarkt eine gut bezahlte Arbeit zu finden.

Zur Person

Andreas Peichl wurde in Lauterbach, Hessen geboren. Nach der Schule studierte er Betriebswirtschafts- und Volkswirtschaftslehre in Marburg und Köln. Er promovierte in Köln, arbeitete unter anderem am Institut zur Zukunft der Arbeit in Bonn sowie dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim und wurde 2013 Professor an der Universität Mannheim. Heute ist er Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiter des Zentrums für Makroökonomik und Befragungen am ifo Institut für Wirtschaftsforschung.

(Mira Knauf)

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