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Traumtherapeutin "Jede Nacht wacht er auf"

Lou Antoinette Godvliet

Sie haben ihre Familien verloren, Gewalt erlebt oder Morde beobachtet: Viele Kinder, die aus Konfliktgebieten flüchten und zu uns nach Deutschland kommen, sind traumatisiert. Marianne Rauwald, Leiterin des Instituts für Traumabearbeitung und Weiterbildung in Frankfurt, erzählt Lou, wie wir diese Kinder hier unterstützen können.

Spielzeughaus und Grafiken.

Wie teilen sich Kinder mit, die etwas Schreckliches erlebt haben? Das wissen Therapeuten wir Marianne Rauwald. © dpa/picture alliance

Warum brauchen Kinder, die aus einem Konfliktgebiet zu uns nach Deutschland kommen, besondere Aufmerksamkeit?

Kinder, die aus Konfliktgebieten zu uns kommen, brauchen unsere Aufmerksamkeit, weil sie nach einer Zeit der Unsicherheit und Belastung das Gefühl brauchen, anzukommen und ein positives und sicheres Umfeld zu finden. Sowohl die Kinder als auch die Konfliktgebiete sind natürlich sehr unterschiedlich. Es macht zum Beispiel einen Unterschied, wie alt die Kinder sind, was sie erlebt haben, ob sie in Begleitung ihrer Eltern kommen – oder alleine. Trotzdem kann man allgemein sagen, dass alle Kinder massive Verluste erlebt haben. Dazu gehören das Zuhause, oft nahe Familienangehörige, Freunde, Kultur und ihre ganze gewohnte und vertraute Umgebung. Sie kommen dann hier in die Fremde, wo sie niemanden oder kaum jemanden kennen und die Sprache in der Regel neu ist.

Können Sie ein Beispiel einer Geschichte geben, die Sie sehr getroffen hat?

Da gibt es so viele Geschichten, die mir im Kopf und im Herzen geblieben sind. Eigentlich ist jede einzelne Geschichte eine sehr besondere und aufwühlende Geschichte. Ein junger Mann im Alter von 17 Jahren kam als unbegleiteter Minderjähriger von Afghanistan nach Deutschland. Er hat sich an unser Institut für Traumabearbeitung und Weiterbildung gewendet, weil er kurz vor der Abschiebung stand. Man glaubte ihm seine Fluchtgeschichte nicht, da er sie so sachlich erzählt hatte. Der Vater des jungen Mannes war in Afghanistan Lehrer. Er hat sich dafür eingesetzt, dass auch Mädchen die Schule besuchen dürfen. Die Taliban hat seine Familie letztendlich bedroht, aber der Vater ist bei seiner Haltung geblieben. Eines Nachts sind die Taliban in ihr Haus eingedrungen. Die Familie hat sich im Wohnzimmer versammelt und sie haben dem Vater vor den Augen der gesamten Familie die Zunge herausgeschnitten und auf meinen jungen Patienten geworfen. Dann haben sie den Vater ermordet. Jede Nacht wacht dieser junge Patient um dieselbe Uhrzeit auf, bekommt keine Luft mehr und bricht in Panik aus.

Wie erzählen die Kinder und Jugendlichen von dem Erlebten?

Es kann aus ihnen herausbrechen, oder sie erzählen sehr sachlich wie im Beispiel gerade eben. Letzteres ist ein psychischer Abwehrmechanismus, bei dem die Emotionen einfach zur Seite geschoben werden, weil sie zu überwältigend sind. Deshalb erzählen viele nicht so emotional wie wir es erwarten würden. Kinder wollen das Erlebte hinter sich zurücklassen und spalten es deshalb oft ab. Es meldet sich dann nur in Alpträumen oder ungewollt und plötzlich in – wie wir es nennen – Intrusionen. Das sind Bilder, Gefühle, Erinnerungsfetzen, die nicht bewusst reguliert werden können, sondern das Kind plötzlich einfach überschwemmen.

Haben alle Kinder, die etwas Schlimmes erlebt haben, ein Trauma?

Trauma ist ein sehr relativer Begriff. Alle Kinder, die sowas erlebt haben, haben damit potentiell traumatische Erfahrungen gemacht. Ob etwas wirklich traumatisch wird – also eine "Notfallreaktion" auslöst – hängt neben der Intensität der erlebten Ereignisse von der Stärke des psychischen Schutzschildes ab. Es gibt tatsächlich Menschen, die haben so ein starkes Schutzschild, da werden solche Erlebnisse zwar zu einer Belastung, aber nicht zu einem Trauma. Insgesamt haben viele Kinder, die zu uns kommen, Traumafolgestörungen, aber nicht alle.

Was können mögliche Auslöser für so ein Trauma sein?

Ein Trauma ist immer dann die Folge, wenn ein äußeres Ereignis so bedrohlich ist, dass es keine innere, psychische Abwehr mehr gibt und dieses Ereignis nicht mehr adäquat verarbeitet werden kann. Das kann an Bedrohung eigentlich alles mögliche sein. Insbesondere lebensbedrohliche Situationen, Erfahrungen von Gewalt, schwere Verluste, vor allem von Eltern oder nahen Familienangehörigen, aber auch plötzliche Veränderungen der Eltern oder deren psychische Erkrankung, Verlust von Familienmitgliedern und sexuelle Gewalt, zum Beispiel.

Wie kann ich erkennen, ob ein Kind in meiner Schulklasse traumatisiert ist?

Das ist manchmal nicht so schwierig zu erkennen. Es gibt eine Grundsymptomatik der sogenannten "posttraumatischen Belastungsstörung", die aus drei Punkten besteht: Die betroffenen Menschen sind überflutet von Bildern, die sich unwillkürlich in ihrem Kopf abspielen. Ihre Impulskontrolle ist eingeschränkt, wodurch viele leichter ein aggressives Verhalten, Unruhe und Konzentrationsschwierigkeiten aufweisen. Außerdem ziehen sie sich aus ihrem sozialen Leben zurück. Zum Unterricht kommen diese Kinder oftmals zu spät, weil sie erst in den frühen Morgenstunden einschlafen, haben keine Hausaufgaben gemacht, weil sie diese vergessen haben und stören den Unterricht durch die anhaltenden Erregungszustände.

Was kann ich dann als Mitschüler tun?

Andere Schüler sind schnell damit überfordert. Daher wäre es gut, wenn es in den Klassen mit vielen Flüchtlingen ein Wissen darüber gibt, aber die Verantwortung liegt dann doch mehr bei den Lehrern, die noch andere Angebote machen können. Sie können Schülern oder ihren Familien zum Beispiel eine Anlaufstelle für diese Probleme empfehlen oder sie kommen beispielsweise zu mir für eine Supervision, also ein erstes Gespräch.

Können Kinder diese Erfahrungen überhaupt irgendwann verarbeiten, und wie helfen Sie Ihnen dabei?

Ich denke natürlich schon, das ist auch der Fokus unserer Arbeit. Diese Kinder brauchen einen sicheren Ort, an dem sie sich wohl und geborgen fühlen. Das ist bei uns leider nicht immer gegeben, da sie in den Familien oder Großeinrichtungen auf winzigem Raum leben. Das Beste was Kindern passieren kann, ist in einer Familie zu leben, wo es den Eltern auch wieder gut geht. Es muss sich also auch viel um die Eltern gekümmert werden, damit diese überhaupt erst wieder Eltern für ihre Kinder sein können.

Was ist der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen, die unter einem Trauma leiden?

Wenn ein Trauma erst später im Leben stattgefunden hat, gibt es schon eine Basis aus dem Leben vorher – und das ist gut. Kinder werden hingegen in ihrer Entwicklung nachhaltig beeinträchtigt durch traumatische Erfahrungen. Die gesamte weitere Entwicklung läuft auf "einem schiefen Tisch", der nicht mehr tragfähig ist. Daher ist ein Trauma noch gravierender für Kinder.

Gibt es in Deutschland ausreichend Angebote, die Kindern aus Konfliktgebieten helfen?

Das wage ich zu bezweifeln. Es hat in den Jahren 2015 und 2016 eine immense Aufmerksamkeit gegeben, die im Moment ein bisschen in den Hintergrund rückt. Diese lange Zeit ist nicht ausreichend genutzt worden, um die Kinder zu stabilisieren. Daher sind die Traumafolgestörungen heute viel schwieriger und komplexer als damals.

Über Marianne Rauwald:

Die 62-jährige Psychotherapeutin Marianne Rauwald wohnt in Frankfurt am Main und leitet dort das Institut für Traumabearbeitung und Weiterbildung. Nach ihrem Diplom promovierte sie und begann ihre Therapieausbildung zur Psychoanalytikerin. Marianne Rauwald setzte sich bereits früh mit dem Thema Trauma auseinander und war längere Zeit in Südafrika, um in diesem Bereich Erfahrungen zu sammeln. In naher Zukunft wird sie Fortbildungen für Therapeuten im Irak halten.

Lou Antoinette Godvliet

Zur Person

mitmischen-Autorin

Lou Antoinette Godvliet

Psychologiestudentin aus Wuppertal

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