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Forscher "Sie mussten unsichtbar werden"

Lisa Brüßler

Die Tagebuch-Autorin Anne Frank ist wohl das bekannteste versteckte Kind der Nazi-Zeit. Mutige Menschen versuchten auf diese Weise, jüdische Kinder vor dem Tod zu bewahren. Patrick Siegele, Leiter des Anne Frank Zentrums in Berlin, hat Lisa erzählt, worum es geht.

Portraitfoto

Die Kinder wurden in Verschlägen, auf Dachböden, Bauernhöfen oder auch in Datschen und Gartenhäuschen versteckt, sagt Patrick Siegele. © privat

Herr Siegele, Anne Frank war über zwei Jahre im Hinterhaus der Fabrik ihres Vaters versteckt. Dort hielt sie ihre Erlebnisse und Gedanken in einem Tagebuch fest, das nach dem Krieg als "Tagebuch der Anne Frank" veröffentlicht wurde. Anne war aber kein Einzelfall in der Nazi-Zeit, oder?

Keineswegs. Die Franks flohen bereits 1933, nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, in die Niederlande. Das war bei tausenden deutsch-jüdischen Familien so. Als aber die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 dort einfiel und all die anti-jüdischen Maßnahmen und Gesetze, wie etwa das Schulverbot, in Kraft traten, waren sie auch dort nicht mehr sicher.

Der einzige Weg war also in den Untergrund zu gehen. Dass dabei die ganze Familie über zwei Jahre zusammen in einem Versteck blieb, war eher die Ausnahme als die Regel. Sehr viele Kinder wurden auch alleine oder mit nur einem Elternteil versteckt. Vor allem mit Kleinkindern war das natürlich ein immenses Risiko, weil man unsichtbar – und lautlos – werden musste.

Weiß man, von wie vielen Menschen wir hier sprechen?

Für Berlin gehen wir davon aus, dass es zwischen 5.000 und 7.000 Jüdinnen und Juden gab, die in die Illegalität gegangen sind. Etwa die Hälfte von ihnen hat überlebt. Und von diesen Menschen, waren etwa 1.000 Kinder. 2006 hatten wir bei uns eine Ausstellung über Kinder im Versteck. Damals sind wir noch von etwa 3.500 versteckten Juden ausgegangen, die in Berlin untergetaucht sind – da hat sich in zehn Jahren Forschung also viel getan.

Wann begann die Lage in Berlin "akut" zu werden?

Hier in Berlin haben die ersten Deportationen im Oktober 1941 begonnen – ab dann wurde jüdischen Kindern der Schulbesuch untersagt und sie wurden zur Zwangsarbeit eingezogen. Der Höhepunkt wurde bei der sogenannten Fabrik-Aktion am 27. Februar 1943 erreicht. Damals gab es den Beschluss, sämtliche Juden in Berlin direkt von ihren Arbeitsstätten oder Wohnungen zu deportieren. Und da entschlossen sich viele, in die Illegalität zu gehen.

Von welchen Verstecken reden wir denn?

Die Verstecke sind sehr vielfältig. Es gibt Beispiele, in denen Nachbarn, Bekannte oder Freunde bereit waren, die Menschen in ihren Wohnungen zu verstecken und als Verwandte oder neue Mieter auszugeben. Bei Kindern hat man auch oft so getan, als wären es ausgebombte Kinder und ihnen eine falsche Identität besorgt. Andere versteckten sie in Verschlägen, auf Dachböden, Bauernhöfen oder auch in Datschen und Gartenhäuschen. Trotzdem war das Risiko, entdeckt zu werden, immer da. Deswegen mussten die Verstecke auch oft gewechselt werden.

Was weiß man denn über die Menschen, die versteckt haben und über ihre Motive?

Es gibt eine sehr große Bandbreite bei den Helfern und ihren Motiven. Es gab Helfer, die spontan bereit waren, jemanden aufzunehmen, die nicht unbedingt im Widerstand organisiert oder Gegner der Nazis waren. Miep Gies, die Helferin der Familie Frank, hat später gesagt, dass es ganz selbstverständlich war, dass sie ihrem Chef, Otto Frank, und seiner Familie half, sich in dem Firmengebäude in Amsterdam zu verstecken. Dafür waren starke Netzwerke nötig: Gies hatte nur einen Gemüsehändler und einen Bäcker, der nicht so genau nachgefragt hat für wen sie so viel Brot brauchte – ohne die wäre es nicht gegangen. Aber es gab auch Leute, die sich ihre Hilfe bezahlen ließen.

Und natürlich haben auch ausgesprochene Nazi-Gegner, wie etwa die Kommunisten, ein Netzwerk an Helfern aufgebaut. Auch haben Menschen aus religiösen Gründen gehandelt. Nicht zu vergessen ist zudem der jüdische Widerstand.

Das Versteckt-Sein, aber auch der Wechsel der Verstecke, war für viele Betroffene sicher problematisch – vor allem für Kinder, oder?

Ja, das Gefühl der fehlenden Sicherheit und die ständig Angst, verraten und verhaftet oder von den Eltern getrennt zu werden, sind Traumata, die bei vielen nachgewirkt haben. Manche Zeitzeugen berichteten uns, dass sie jahrzehntelang nicht über die Zeit im Versteck erzählen konnten. Oftmals vererben sich solche Traumata auch auf die Nachfahren.

Auch räumlich waren die Verstecke sehr herausfordernd: Anne Frank hatte das Glück, eine sehr kreative Persönlichkeit zu sein, die im Versteck ihre Gedanken niederschrieb und weiter für die Schule lernte. Ihre Schwester Margot machte dort sogar einen Stenographie-Kurs. Aber für andere war das permanente Nichts-Tun und Warten auf wenigen Quadratmetern pure Langeweile und Qual.

Auf Einladung des Bundestages beschäftigten sich 78 junge Menschen mit dem Phänomen "versteckte Kinder". An dieser sogenannten Jugendbegegnung nahmen auch Jugendliche teil, die sich im Anne-Frank-Zentrum engagieren. Warum ist Ihnen das ein Anliegen?

Wir binden Jugendliche so viel wie nur möglich in unsere tägliche Arbeit ein und glauben an den Ansatz des Peer-Learning. Seit 20 Jahren arbeiten wir mit sogenannten Peer Guides und seit sechs Jahren mit Anne-Frank-Botschaftern, die Ausstellungen, Workshops, Konzerte oder Kulturveranstaltungen in ihrem lokalen Umfeld begleiten. So bilden wir jedes Jahr 400 Jugendliche darin aus, Wissen zu vermitteln und über Geschichte ins Gespräch zu kommen. Viele Jugendliche wollen dran bleiben an den Themen rund um Erinnerung, Opfer und dem Bezug zu heute, und dafür ist die Jugendbegegnung natürlich eine tolle Gelegenheit.

Über Patrick Siegele:

Patrick Siegele (geboren 1974) ist seit 2014 Direktor des Anne Frank Zentrums Berlin. Er hat in Österreich und Großbritannien Deutsche Philologie und Musikwissenschaft studiert. Siegele war von 2015 bis 2017 Koordinator des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus und ist Mitglied im Beirat des Bündnisses für Demokratie und Toleranz sowie im Forum gegen Rassismus.

Lisa Brüßler

Zur Person

mitmischen-Autorin

Lisa Brüßler

arbeitet bei der Zeitung Das Parlament und beim Pressedienst heute im Bundestag.

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