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Jugendhilfe Experten loben und kritisieren den Plan der Regierung

Eric Matt

Die Bundesregierung möchte die Kinder- und Jugendhilfe reformieren. Was ist das überhaupt? Und was finden Experten, die der Familienausschuss anhörte, an der Reform gut, was nicht?

Zwei Mädchen unterhalten sich draußen, eines mit, eines ohne Rollstuhl

Jugendhilfe soll künftig sowohl Menschen mit als auch ohne Behinderung einbeziehen. Das begrüßten Experten im Bundestag. © shutterstock.com/Daisy Daisy

Sexuelle Belästigung, illegaler Drogenkonsum, ungewollte Schwangerschaft oder eine heftige Schlägerei – manchmal haben junge Menschen Probleme zu bewältigen, bei denen auch Freunde und die Familie nicht immer helfen können. Dann kann es nützlich sein, sich professionelle Hilfe zu suchen.

Dies kann eine Psychologin, ein Sozialarbeiter, eine Ärztin oder auch etwa ein Pfarrer sein. Und es kann im Rahmen der sogenannten Kinder- und Jugendhilfe stattfinden. Kinder- und Jugendhilfe ist aber noch weitaus mehr. Sie richtet sich an Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene sowie auch deren Eltern. Ansprechpartner sind zumeist die Jugendämter vor Ort.

Inklusion top, Kosten flop

Die Bundesregierung möchte diese Hilfe nun reformieren – also erneuern, um Kinder und Jugendliche besser unterstützen zu können. Dafür hat sie einen Entwurf für ein Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, kurz KJSG, vorgelegt.

Doch sind die Vorschläge der Regierung geeignet? Das wollte nun der Familienausschuss in einer Anhörung von Experten wissen. Kurz gesagt: Die Sachverständigen lobten inklusive Ansätze im Entwurf, also dass Jugendhilfe künftig sowohl Menschen mit als auch ohne Behinderung einbeziehen soll. Sie kritisierten aber weitestgehend einstimmig die zu niedrig ausgewiesenen Kosten der Reform.

Was bedeutet Kinder- und Jugendhilfe überhaupt?

Das Bundesfamilienministerium erklärt, Kinder- und Jugendhilfe sei „ein Instrument zur Hilfestellung und zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, Mädchen und Jungen, jungen Frauen und jungen Männern.“

Gesetzlich geregelt ist die Kinder- und Jugendhilfe im achten Buch des sogenannten Sozialgesetzbuches (SGB). Das Gesetz verpflichte „die Jugendämter zur Hilfe und schafft den Rahmen für die Unterstützung von Sorgeberechtigten, Müttern sowie Vätern zum Wohle ihrer Kinder. Es soll Kindern und Jugendlichen Recht und Stimme verschaffen und Handwerkszeug sein für Fachkräfte und engagierte Menschen.“

Dabei sei es egal, „ob Sie Ihr Kind in die Kita bringen, Ihre Tochter in ein Mädchenzentrum geht, ob Ihre Freunde ein Kind in Pflege genommen oder adoptiert haben, immer haben Sie es mit der Kinder- und Jugendhilfe zu tun“, schreibt das Ministerium in einer Broschüre. Kurz gesagt: Ziemlich viele junge Menschen haben in gewisser Weise irgendwann mit der Kinder- und Jugendhilfe zu tun.

Was schlägt die Bundesregierung vor?

Die Regierung möchte mit ihrem Gesetzentwurf eine „Weiterentwicklung“ der Kinder- und Jugendhilfe erreichen, um „alle junge Menschen stärken“ zu können. Die Regierung versucht dadurch, „gesellschaftliche Teilhabe für alle jungen Menschen“ zu ermöglichen. Dabei konzentriere sie sich vor allem auf „diejenigen jungen Menschen, die benachteiligt sind, die unter belastenden Lebensbedingungen aufwachsen und die Gefahr laufen, abgehängt zu werden“.

Als Lösungen möchte die Bundesregierung unter anderem „mehr Prävention vor Ort ermöglichen“. Zukünftig soll es also beispielsweise „mehr ambulante Hilfen für Familien in Notsituationen“ geben. Betroffene sollen auch besser beteiligt werden, denn die „Partizipation von Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern“ sei „essentiell“.

Explizit stärken will die Bundesregierung auch „Kinder und Jugendliche, die in Pflegefamilien oder in Einrichtungen der Erziehungshilfe aufwachsen“. So soll beispielweise der Anteil der Kosten, den junge Menschen etwa in betreuten Einrichtungen selbst tragen müssen, „auf höchstens 25 Prozent ihres Einkommens reduziert“ werden. Bisher lag dieser Wert bei höchstens 75 Prozent.

Des Weiteren sollen Eltern „einen Rechtsanspruch“ darauf haben, in Sachen „Beziehung zu ihrem Kind“ beraten, unterstützt oder gefördert zu werden. Rechtsanspruch heißt, dass Eltern Hilfe bekommen müssen, falls sie diese einfordern.

Die Bundesregierung möchte außerdem, dass „die spezifischen Belange von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen noch stärker zum Tragen kommen“. Allgemein verbessern möchte die Regierung auch die Zusammenarbeit innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe. So sollen beispielsweise Ärzte, Lehrerinnen, die Polizei oder auch das Jugendgericht untereinander besser vernetzt sein.

Rückfall in die 80er oder Fortschritt?

Die Expertinnen und Experten waren nicht mit allen Ideen der Bundesregierung einverstanden. Und ihre Einschätzungen waren höchst unterschiedlich. Während die einen von Rückschritt sprechen, halten die anderen das Vorhaben für einen Fortschritt.

Dr. Elke Alsago von der Vereinten Dienstleistungsgesellschaft (Verdi) erklärte, dass der Gesetzentwurf „ein deutlicher Angriff auf die Professionalität“ sei. „Das Wissen der Fachkräfte wird ignoriert. Es wird nichts dafür getan, die Jugendhilfe besser auszustatten“, kritisierte Alsago.

Sie begrüßte, „dass endlich inklusiv gearbeitet werden soll, doch es fehlt an einer Idee, wie dies fachlich zu realisieren ist“. Inklusion bedeutet, dass alle Menschen – beispielsweise auch körperlich oder geistig behinderte – miteinbezogen werden. Die Expertin zog das Fazit: „Es handelt sich hier nicht um eine fortschrittliche Reform, sondern um einen Rückfall in die Achtzigerjahre des vorherigen Jahrhunderts.“

Jugendamt ist keine „polizeiliche Gefahrenabwehrbehörde“

Prof. Dr. Karin Böllert von der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) hingegen sagte, sie sehe „in dieser Reform eine wertvolle fachliche Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe“. Jedoch würde es „einige zentrale offene Punkte geben“. So werde das Jugendamt beispielsweise „zu einer polizeilichen Gefahrenabwehrbehörde“, anstatt Schutz und Hilfe anzubieten.

Der Gesetzentwurf übersehe, dass „das Angebot von Vertraulichkeit im Kinderschutz die zentrale Voraussetzung ist, um Kinder und Jugendliche schützen zu können“. Dem stimmte auch Hubert Lautenbach zu, der für den Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) geladen war.

Dauert es zu lange?

„Es ist notwendig, dass unser umfangreiches Fachwissen gebündelt wird, sodass die Beteiligten gemeinsam das Ziel verfolgen, das am Ende unseren Kindern, Jugendlichen und deren Familien nützt“, erklärte Markus Dostal von „Projekt Petra“. Daher blicke er „umso optimistischer auf den Gesetzentwurf“, da dieser „gute Regelungen“ schaffe und Kinder und Jugendliche „optimal gestärkt werden“.

Jedoch bereitet Dostal die Umsetzungsfrist von sieben Jahren „ein wenig Sorge“, da dies „das Risiko mit sich bringt, dass der Reformprozess nicht in Gänze umgesetzt wird“. Auch der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Jörg M. Fegert vom Universitätsklinikum Ulm und der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Reinhard Wiesner von der Freien Universität Berlin bewerteten die Frist von sieben Jahren als zu lange. Als angemessen erachteten diese hingegen Stefan Hißnauer vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) und Dr. Koralia Sekler vom Bundesverband für Erziehungshilfe (AFET).

„Erhebliche Herausforderungen“

Sabine Gallep vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge sagte, sie „begrüße ausdrücklich diese Reform und die verfolgten Ziele, Kinder und Jugendliche zu stärken und das Unterstützungssystem weiterzuentwickeln“. Sie unterstütze „vom Grunde her“ die geplanten Änderungen.

Aber: Um Kindern und Jugendlichen wirklich helfen zu können, „benötigen wir nicht nur dieses Gesetz. Die Regelungen müssen entsprechend in der Praxis vor Ort umgesetzt werden“. Dies werde zu „erheblichen Herausforderungen“ führen.

„Wichtigste Reform“ erfordert Geld

„In diesem Land werden mit Steuergeldern Banken, Airlines und immer mal wieder die Automobilindustrie gerettet. Die wichtigste Reform der Kinder- und Jugendhilfe seit 1990 soll jedoch unter der Prämisse der Kostenneutralität stattfinden“, kritisierte Christine Lohn von der Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit. Sie erklärte, dass „ein Systemwechsel zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe nicht kostenneutral zu bewältigen“ sei.

„Politischer Mut“ ist gefragt

Christiane Möller vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) erklärte, es sei „mehr als überfällig, die Kinder- und Jugendhilfe endlich inklusiv auszugestalten“. Möller ist gleichzeitig auch Mitglied des Deutschen Behindertenrates, der mehr als zweieinhalb Millionen Menschen vertritt.

„Wir werden die Reform daran messen, ob es wirklich zu substanziellen Verbesserungen für Menschen mit Behinderung kommt. Aber dafür braucht es echten politischen Mut“, so Möller.

Außerdem hatte die FDP-Fraktion einen Antrag eingebracht, mit dem sie die Kostenbeteiligung für Pflegekinder abschaffen will. Die komplette Anhörung könnt ihr euch im Video anschauen:

Portraitfoto von mitmischen-Autor Eric Matt
mitmischen-Autor

Eric Matt

... ist 22 Jahre alt und studiert an der Universität Konstanz Politik- und Verwaltungswissenschaften. Zurzeit macht er ein Auslandssemester in Israel.

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