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BUNDESTAGS-STIPENDIATIN „Großartig, dass jeder eine Plenardebatte besuchen kann“

Rayhane kommt aus Tunesien. Mit dem Internationalen Parlaments-Stipendium war sie vier Wochen im Bundestag. Jetzt versteht sie, warum das politische System in Deutschland so komplex ist.

Junge Frau vor dem Reichstagsgebäude

„Ich möchte beruflich etwas machen, wo ich zwischen Deutschland und Tunesien vermitteln kann“, sagt Rayhane. © DBT/Julia Karnahl

Internationales Parlaments-Stipendium (IPS)

Jedes Jahr lädt der Deutsche Bundestag junge Hochschulabsolventen aus anderen Ländern ein, hinter die Kulissen des deutschen Parlaments zu schauen. Für arabische Staaten gibt es ein extra Programm. Details findet ihr auf der IPS-Seite des Bundestages.

Du hast vier Wochen lang beim Internationalen Parlaments-Stipendium für arabische Staaten Einblicke in den deutschen Parlamentarismus erhalten. Was nimmst du mit nach Hause?

Mir ist das deutsche politische System auf jeden Fall klarer geworden. Als Studentin der internationalen Beziehungen habe ich mich schon vorher damit beschäftigt, aber ich fand es immer sehr kompliziert. Nach den vielen Vorträgen und Seminaren von Abgeordneten und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung verstehe ich es nun viel besser.

Ich denke, ich habe jetzt auch verstanden, warum das politische System hier so kompliziert ist. Als ich nach Deutschland kam, hat mich überrascht, wie stark die Erinnerungskultur hier in der Gesellschaft verankert ist. Ich habe mich immer gefragt: Warum tun die Deutschen sich das an? Im Programm haben wir uns auch viel mit der Erinnerungskultur in Deutschland beschäftigt. Ich habe verstanden, dass sie dazu dient, zu verhindern, dass die Fehler der Vergangenheit wiederholt werden. Und auch das komplexe politische System soll verhindern, dass eine einzelne Person zu viel Macht bekommt.

Wir hatten das Glück, die Lichtershow mitzuerleben, die im Sommer immer abends auf der Fassade des Bundestages zu sehen ist. Dabei erfährt man viel über die Geschichte des Parlaments. Auch als Nicht-Deutsche habe ich Gänsehaut bekommen, zum Beispiel als es um die Wiedervereinigung Deutschlands ging. Ich finde es fantastisch, dass es so etwas gibt, in der Öffentlichkeit und für jeden zugänglich.

Gab es etwas im deutschen Politikbetrieb, das dich überrascht hat?

Wie wenig Zeit die Abgeordneten haben! Sie eilen von einem Ausschuss in den nächsten, von einer Fraktionssitzung zum nächsten Arbeitsgruppentreffen. So extrem habe ich mir das nicht vorgestellt. Man fragt sich, ob sie noch ein Leben außerhalb des Bundestages haben.

Noch eine andere Sache hat mich überrascht: die Transparenz des Bundestages. Die Gebäude bestehen zu großen Teilen aus Glas. Wenn die Menschen hier vorbei spazieren, können sie einfach reinschauen und den Abgeordneten bei der Arbeit zusehen. Das hat mir sehr gut gefallen.

Dazu gehört auch, dass man im Bundestag ein Praktikum machen kann. In Tunesien ist das nicht so unkompliziert möglich. Hier habe ich viele Schüler und Studenten kennen gelernt, die für einen Monat, drei Monate oder noch länger Einblicke ins Parlamentsgeschehen bekommen. Auch dass jeder das Recht hat, eine Plenardebatte zu besuchen, finde ich großartig.

Apropos Plenardebatte: Wie hast du die Debattenkultur im Parlament erlebt?

Meine erste Debatte war die zum Haushaltsentwurf. Ich war sehr beeindruckt. Ich durfte die Reden von allen Fraktionen hören. Alle konnten sehr gut reden und haben gut argumentiert, so dass es mir schwer fiel zu entscheiden, auf wessen Seite ich eigentlich stehe. Mir ist aufgefallen, dass es mehr um die Stärke des Arguments geht als um die Stärke der Stimme. Das fand ich sehr schön. Man muss nicht schreien, um seine Meinung zu äußern. Dass Koalition und Opposition aufeinander geantwortet haben, Kritik nicht persönlich genommen haben, das hat mir auch gefallen. Man hat gemerkt: Sie kontrollieren sich gegenseitig, aber sie haben alle das Ziel, das Land voranzubringen.

Wir haben der Debatte zwei Stunden lang zugehört, und ich wollte mich danach gar nicht vom Plenarsaal trennen, weil es so interessant war.

Zuletzt hast du eine Woche lang im Büro des Abgeordneten Carl-Julius Cronenberg (FDP) mitgearbeitet. Was waren deine Aufgaben?

In einer Woche kann man natürlich nicht viele Aufgaben übernehmen. Aber ich durfte Herrn Cronenberg fast überallhin begleiten: in den Ausschuss für Arbeit und Soziales, in die AG Europa, in den Arbeitskreis Wirtschaft. Ich durfte zuschauen, Fragen stellen – und da es in dieser Woche auch viel um Tunesien ging, durfte ich auch meine Meinung als Tunesierin einbringen.

Du sprichst sehr gut Deutsch – wo hast du die Sprache gelernt?

Ich bin vor sieben Jahren nach Deutschland gekommen, um mein Master-Studium fortzusetzen. Die ersten sechs Monate hier habe ich mich darauf konzentriert, Deutsch zu lernen. Danach habe ich studiert und als studentische Hilfskraft bei einem Sprachinstitut in Düsseldorf gearbeitet. Durch mein berufliches und akademisches Umfeld konnte ich meine Sprachkenntnisse schnell verbessern.

In Tunesien lernen wir Französisch als erste Fremdsprache. Das hat mir auf jeden Fall geholfen, weil die Grammatik ähnlich kompliziert ist wie die deutsche.

Wie geht es bei dir jetzt weiter? Welche Pläne hast du für die Zukunft?

Ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, der Prozess läuft. Ich werde auch die tunesische Staatsbürgerschaft behalten können. Ich fühle mich hier wie dort sehr wohl und identifiziere mich mit beiden Ländern. Deshalb möchte ich auch beruflich etwas machen, wo ich zwischen Deutschland und Tunesien vermitteln kann. So wie im Moment: Ich betreue von Deutschland aus Projekte in Tunesien, was super ist, weil ich beide Sprachen spreche und auch beide kulturellen Perspektiven kenne.

Aber ich habe schon den Wunsch, nach Tunesien zurückzukehren, wenn ich hier noch mehr berufliche Erfahrungen gesammelt habe. Deutschland ist weiter entwickelt, hier kann ich mehr lernen. Aber ich möchte auch meinem Land helfen. Tunesien ist eine junge Demokratie. Zum Glück haben wir eine engagierte Zivilgesellschaft. Da möchte ich mich einbringen. Ich tausche mich ständig mit Freunden in Tunesien und auch in anderen Ländern aus, ich finde diesen Perspektivwechsel sehr wertvoll. Wir jungen Leute aus Tunesien wollen die Zukunft unseres Landes mitgestalten.

Zur Person

Rayhane Chalghoumi, 29, kommt aus Tunesien. Dort hat sie ihr Abitur und ihren Bachelor gemacht. Danach ist sie nach Deutschland gezogen und hat in Bochum ihren Master in internationalen Beziehungen gemacht. Jetzt arbeitet sie in Vollzeit beim Institut für Internationale Kommunikation als Projekt-Managerin und betreut Projekte in Tunesien.

(jk)

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