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Renate Künast (Grüne) „Gehen mit Lebensmitteln falsch um“

„Wir müssen uns grundsätzlich fragen, wie wir mit Lebensmitteln umgehen wollen“, sagt Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen). Im Interview haben wir mit ihr über Erdbeeren, Überproduktion und Containern gesprochen.

Porträt von Renate Künast

Es sei wichtig, einen Weg zu finden, Strafverfahren in leichten Fällen des Containerns einzustellen, so Renate Künast von der Grünenfraktion. Das würde auch die Justiz entlasten.© Anne Hufnagl

Kürzlich wurde im Bundestag über Lebensmittelverschwendung debattiert. Elf Millionen Tonnen Lebensmittel landen laut Antrag der CDU/CSU-Fraktion jährlich in Deutschland im Mülleimer. Woran liegt das?

Genau genommen sind es sogar 18 Millionen Tonnen Lebensmittel, die in Deutschland jedes Jahr im Müll landen. Zu diesem Schluss kam eine Studie des WWF. Umgerechnet sind das 2,5 Millionen Hektar Ackerland, die vollkommen sinnlos für den Anbau von Lebensmitteln genutzt werden. Und es geht um 22 Millionen Tonnen CO2, die bei der Produktion entstehen. Es ist eine Vergeudung von Flächen, von Wasser, von Energie.

Wir gehen mit Nahrungsmitteln einfach falsch um. Es wird zwar oft gesagt, es seien die Privathaushalte, die besonders viel wegschmeißen. Aber ich denke, wir müssen uns dringend Gedanken über die Überproduktion machen: Zu jeder Tages-, Nacht und Jahreszeit sind alle erdenklichen Obst- und Gemüsesorten in den Läden vorzufinden. Wenn hier gerade keine Erdbeeren wachsen, weil Winter ist, muss es aber trotzdem im Supermarkt Erdbeeren geben – und zwar möglichst bis zur letzten Minute des Tages.

Dass alles immer im Überfluss vorhanden ist, ist meiner Meinung nach ein Fehler. Wir müssen saisonaler und regionaler denken. Das bedeutet auch, dass wir uns überlegen, welches Gemüse es zu welcher Jahreszeit gibt und was wir damit kochen wollen. Wir müssen unsere Erwartungshaltung verändern: das gilt für die Verbraucher, aber auch für den Lebensmittelhandel.

Sehen Sie vor allem die Konsumenten in der Pflicht, sich beispielsweise gegen Erdbeeren im Winter zu entscheiden?

Nein, denn wie soll man als Konsument so tapfer sein, sich gegen hübsch ausgeleuchtete Früchte zu entscheiden? Das wird nicht funktionieren. Deswegen meine ich, dass wir das Thema ganz grundsätzlich betrachten müssen. Wir müssen uns fragen, wie wir produzieren wollen und wofür wir unsere Ackerflächen nutzen wollen.

Aber es ist aus allen Perspektiven sinnvoll, saisonaler und regionaler zu denken. Denn durch die Klimaveränderungen müssen wir uns ohnehin darauf einstellen, dass es bestimmte Früchte in Zukunft seltener geben wird und sie dadurch sehr viel teurer werden. Viele exotische Früchte werden aus Ländern importiert, die schon jetzt mit Wasserknappheit zu kämpfen haben. Das wird in Zukunft noch zunehmen.

Ein umstrittener Punkt im Zusammenhang mit Lebensmittelverschwendung ist das sogenannte Containern. Wie stehen Sie zu dem Thema?

Beim Containern geht es um weggeworfene Waren, die aus Abfallbehältern mitgenommen werden. Oft handelt es sich dabei um Lebensmittel, die teilweise noch essbar sind, auch wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist oder Obst und Gemüse nicht den hohen optischen Ansprüchen entsprechen.

Da werden also Lebensmittel, die nicht mehr ganz schick aussehen, in den Container geworfen und zu Müll degradiert. Und obwohl alle der Meinung sind, dass Lebensmittelverschwendung bekämpft werden müsse, werden diejenigen bestraft, die diese Produkte aus den Containern nehmen.

Der rechtliche Umgang mit dem Containern ist nicht ganz einfach. Ich finde, wir müssen unbedingt einen Weg finden, um Strafverfahren mindestens in den leichten Fällen des Containerns einzustellen – wenn also beispielsweise kein Hausfriedensbruch vorliegt, weil keine Zäune überwunden werden mussten.

Wäre das rechtlich denn möglich?

Das liegt in den Händen der Bundesländer. Denn es gibt eine Ländervereinbarung, eine sogenannte Verwaltungsvorschrift, die vorsieht, dass die Länder für die Staatsanwaltschaften ein einheitliches Vorgehen vereinbaren müssen. Da geht es um die Richtlinien in Straf- und Bußgeldverfahren. Und leider ist es so, dass die Bundesländer mehrheitlich dagegen sind, eine Regelung zu finden, mit der sich diese Strafverfahren schneller einstellen ließen.

Es gab eine gute Initiative aus Hamburg: In den einfachen Fällen des Containers wäre hier entschieden worden, die Verfahren immer wegen Geringfügigkeit einzustellen. Das wäre auch eine Entlastung für die Staatsanwaltschaft. Aber diese Vorlage wurde von den anderen Ländern nicht angenommen. Da muss man also weiter versuchen, eine Lösung zu finden.

Neben diesen Verfahrensfragen geht es aber auch darum, den Diebstahl-Paragrafen im Strafgesetzbuch entsprechend anzupassen. Hier muss ebenfalls eine Formulierung gefunden werden, die es sowohl den Betroffenen als auch der Strafjustiz leichter macht. Das Bundesjustizministerium ist in diesem Bereich bisher sehr zögerlich. Ich erwarte aber, dass man sich dort bemüht, eine gute Lösung zu finden.

Eine Schwierigkeit bei der Abgabe von Lebensmitteln an soziale Einrichtungen ist die Haftungsfrage. Können Sie uns erklären, wo hier das Problem liegt?

Für die Weitergabe von Lebensmittel an soziale Einrichtungen gilt das Lebensmittelrecht. Da geht es also auch um Bestimmungen, die Lebensmittelsicherheit und die Lebensmittelhygiene betreffen. Etwas verkürzt zusammengefasst: Wer Lebensmittel weitergibt, gilt als Lebensmittelunternehmer. Und für die Lebensmittelsicherheit ist das Lebensmittelunternehmen verantwortlich, das das Lebensmittel abgibt. Das heißt zum Beispiel, dass ausgegebene Waren rückverfolgbar sein müssen und dass die soziale Einrichtung sich von der Sicherheit der weitergegebenen Lebensmittel überzeugen muss.

Deshalb sind die Hemmungen teilweise groß, Lebensmittel abzugeben, wenn man am Ende möglicherweise dafür haften muss, dass es jemandem schlecht ging, nachdem von den Lebensmitteln gegessen wurde.

Gleichzeitig ist es nach geltendem Recht aber auch so, dass grobe Fahrlässigkeit nur unter Vorsatz bestraft wird. Also bin ich nicht sicher, ob wir überhaupt ein Problem mit der Haftungsfrage haben. Gänzlich auf jede Haftung zu verzichten, geht jedenfalls nicht. Hier gibt es noch eine rechtliche Lücke, über die wir weiter diskutieren müssen.

In der Bundestagsdebatte zu dem Thema haben Sie Frau Stumpp (CDU/CSU) und den Antrag der CDU/CSU-Fraktion kritisiert. Weshalb?

Die Kollegin Stumpp hat in der Rede vor mir gefordert, eine Kompetenzstelle zu gründen, die sich mit all den Fragen rund um die Lebensmittelverschwendung beschäftigen und bei einer der nachgeordneten Behörde aufgehängt sein soll, die zum Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gehören.

Ich fand das keinen guten Vorschlag. Es gibt diesen alten Spruch: „Wenn ich mal nicht weiterweiß, gründ‘ ich einen Arbeitskreis“. Und hier hatte ich das Gefühl, dass aus Mangel an anderen Ideen eine Kompetenzstelle vorgeschlagen wurde.

Meiner Meinung nach widerspricht das dem Ansatz, sich grundsätzliche Gedanken um unseren Umgang mit Lebensmitteln zu machen. Wir müssen erst einmal beantworten, ob alle Lebensmittel jederzeit bis zum Ladenschutz verfügbar sein müssen.

Außerdem müssen wir klären, wer wie viel anbauen soll und wie man ein besseres Management der Waren im Handel schaffen kann. Der Lebensmittelhandel muss Lösungen finden, die Waren so anzubieten, dass weniger weggeworfen wird. Dazu gehört dann vielleicht auch, dass es ein paar Stunden vor Ladenschluss bestimmte Dinge nicht mehr zu kaufen gibt.

Nur so können wir auch die richtige Botschaft an die Vorproduzenten senden. Und nur so können wir das Ziel einhalten, bis 2030 die Lebensmittelabfälle zu halbieren.

Gibt es noch weitere Maßnahmen, die Sie für wichtig halten, um die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren?

Wir müssen die ganze Produktions- und Lieferkette umstrukturieren. Wir brauchen ein klares Konzept, um Lebensmittelverschwendung an allen Punkten entlang der Kette zu reduzieren. Denn es geht eben auch darum, das zu viel produziert wird. Man denke zum Beispiel an die Berge von Hokkaido-Kürbissen, die einfach auf den Feldern liegen bleiben, weil sie im Schönheitswettbewerb nicht bestehen.

Und darüber hinaus gibt es auch einige kleinere Schritte, die wichtig sind. Die Kriterien für Mindesthaltbarkeitsdaten bei hochverbarbeiteten Lebensmitteln sind sehr streng. Deshalb sollten diese Kriterien etwas verändert werden. Und die Verbraucher müssen aufgeklärt werden, dass man nicht alles wegschmeißen muss, was das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten hat. Und natürlich müssen die Menschen in den Privathaushalten auch lernen, anders einzukaufen und Reste weiter zu verwerten.

Aber zusammenfassend geht es vor allem um die Klärung der Grundsatzfragen, um eine bessere Steuerung des Angebots und den richtigen rechtlichen Rahmen für das Containern.

Zur Person

Renate Künast

Renate Künast wurde 1955 in Recklinghausen geboren. Nach der Schule studierten sie Sozialarbeit und Rechtswissenschaften und arbeitete unter anderem als Sozialarbeiterin in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel. Seit 2002 ist Künast Mitglied des Bundestages. Von 2001 bis 2005 war sie Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft; von Oktober 2005 bis 2013 Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sie ist Mitglied im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft und im Wahlausschuss.

Weitere Informationen findet ihr auf ihrem Profil auf bundestag.de.

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