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75 Jahre Europarat „Die wichtigste Menschenrechtsinstitution Europas“

Naomi Webster-Grundl

Vor 75 Jahren wurde der Europarat gegründet. Sein Ziel ist der Schutz von Menschenrechten und Demokratie in Europa. Wie arbeitet der Europarat an diesen Zielen, was kann er gegen Menschenrechtsverletzungen tun und was ist eigentlich der Unterschied zur Europäischen Union? Das verrät uns Frank Schwabe, der Leiter der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, im Interview.

Frank Schwabe steht im Plenarsaal der Parlamentarischen Versammlung des Europarates am Mikrofon.

Frank Schwabe (SPD) ist Leiter der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PVER). © Frank Schwabe

Der Europarat wurde 1949 gegründet und ist damit die älteste zwischenstaatliche Organisation Europas. Mittlerweile gehören der Organisation mit Sitz in Straßburg 46 Mitgliedstaaten an. Ziele des Europarates sind der Schutz der Menschenrechte, der pluralistischen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. 

Die Parlamentarische Versammlung ist eines der Organe des Europarates, sie war das erste parlamentarische Gremium auf europäischer Ebene nach dem Zweiten Weltkrieg und stellt heute das größte politische Forum Europas dar. Die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung kommen viermal im Jahr in Straßburg zu einer mehrtägigen öffentlichen Plenarsitzung zusammen. Der Deutsche Bundestag wird durch eine 18-köpfige Delegation und entsprechend viele Stellvertreter repräsentiert. Frank Schwabe (SPD) ist seit 2022 Leiter der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Anlässlich des 75. Geburtstages des Europarates haben wir ihn zum Interview getroffen.


Herr Schwabe, was ist Ihre Aufgabe als Leiter der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates?

Die deutsche Delegation muss sich regelmäßig treffen, um die Sitzungswochen in Straßburg vorzubereiten, um über aktuelle Themen zu sprechen, sich eine Meinung zu bilden, sich zu orientieren, wie die deutsche Bundesregierung zu bestimmten Themen steht, und zu überlegen: Welche Themen sind für deutsche Abgeordnete insgesamt relevant? Es ist dabei nicht der Anspruch, eine einheitliche Haltung zu haben. Die deutschen Delegierten gehören in Straßburg auch unterschiedlichen Fraktionen an. Selten gibt es da eine gemeinsame Position, es geht vor allem um den Austausch. Irgendjemand muss diesen koordinieren und moderieren – und das bin ich.

Um welche Themen geht es denn konkret im Europarat?

Da geht es zum Beispiel um Kinderrechte, um die Rechte von Frauen, um die Rechte von Geflüchteten, darum, dass es keine politischen Gefangenen in Mitgliedstaaten des Europarats geben soll. Das sind ein paar der inhaltlichen Themen. Und dann gibt es Debatten über einzelne Länder, in denen die Menschenrechtslage schwierig ist. Aktuell sprechen wir da zum Beispiel über Aserbaidschan, die Türkei und die Republik Moldau.

Der Europarat wurde 1949 gegründet. Deutschland ist 1950 beigetreten und 1951 Vollmitglied geworden. Inwiefern hat sich die Zusammensetzung des Europarats über die Jahre verändert und wie verändert sie sich noch heute? Oder gehören alle Länder, die zu Europa gehören, auch zum Europarat?

Es gehören nicht alle europäischen Länder dazu. Der Vatikan gehört nicht dazu, weil es sich bei dem römisch-katholischen Stadtstaat selbsterklärend nicht um eine Demokratie handelt. Russland gehört nicht mehr dazu, weil sie die Ukraine im Februar 2022 überfallen haben, aber auch weil sie im Grunde genommen mittlerweile keine Demokratie mehr sind. Belarus gehörte nie dazu, weil dort die Todesstrafe nie abgeschafft wurde. Kosovo gehört bislang nicht dazu, weil nicht alle Länder des Europarates die Republik Kosovo als eigenständigen Staat anerkennen. Sonst gehören mittlerweile alle dazu.

Allerdings ist das erst nach 1990, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, so gekommen. Vorher waren eigentlich nur die westlichen Demokratien in Europa Mitglied des Europarates. Wobei es da auch Probleme gab, weil Spanien und Portugal Diktaturen waren und es zwischendurch in Griechenland und der Türkei Militärdiktaturen gab. Dass dann nach 1990 über die Jahre die ganzen Länder, die früher zum Ostblock und zum Warschauer Pakt zählten, Mitglied des Europarates wurden, ist auf der einen Seite schön, weil man damit die Menschenrechtslage und die Lage von Demokratie und Rechtsstaat in diesen Ländern verbessern kann. Aber es ist gleichzeitig auch eine riesige Herausforderung, weil viele Länder, nach einer Phase des demokratischen Aufbruchs, sich mittlerweile wieder in eine andere Richtung entwickeln. Und das macht natürlich Probleme in einer Organisation, wenn Mitgliedstaaten das, was sie eigentlich tun sollen – nämlich Menschenrechte und Demokratien schützen – nicht wirklich ernst nehmen, aber trotzdem Mitglied sind, dann höhlen sie natürlich die Wirkung einer solchen Organisation aus.

Inwiefern hat denn der Europarat etwas mit der EU zu tun? 

Der Europarat und die EU sind komplett voneinander getrennte Organisationen. Aber das wird ständig durcheinander geschmissen, unter anderem weil sich die Bezeichnungen sehr ähneln. Die Hymne ist dieselbe, die Flagge ist dieselbe. Die Flagge gehörte aber tatsächlich zuerst, nämlich seit 1955, dem Europarat und die Europäische Union hat gefragt, ob sie die auch nutzen können. Der Europarat war so nett, dem zuzustimmen, sodass die EU seit 1986 die gleiche Flagge nutzt. Aber das war wahrscheinlich ein Fehler, weil der Europarat ja leider heutzutage kaum bekannt ist. Viele denken auch, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) würde zur EU gehören, dabei ist er eigentlich das Herzstück des Europarates. Und auch geografisch ist die EU nur ein Teil des Europarates. Der EU gehören 27 Staaten an, dem Europarat 46. Länder wie Aserbaidschan, die Türkei oder die Ukraine sind Mitglieder im Europarat, aber nicht in der EU. Und der Umgang mit diesen Ländern ist Kernaufgabe des Europarates. Deswegen spielt der Europarat eine viel größere Rolle in den Ländern, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind.

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wurde 1959 in Straßburg von den Mitgliedstaaten des Europarats gegründet, um die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention sicherzustellen. Einzelne Personen sowie Personengruppen und Staaten können sich mit Beschwerden an den EGMR wenden, wenn Rechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen, verletzt wurden und die jeweiligen innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind. Die vom EGMR gefällten Urteile sind für die betroffenen Staaten bindend. Urteile des EGMR haben bereits dazu geführt, dass Regierungen ihre Gesetze und ihre Verwaltungspraxis in vielen Bereichen geändert haben.

Wie arbeitet der Europarat denn konkret an seinen Hauptzielen, dem Schutz von Menschenrechten und der Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit?

Berichterstatter, das sind in der Regel Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung oder ausgewählte Expertinnen und Experten, fahren in die Mitgliedsländer und fertigen Lageberichte an. Diese diskutieren wir dann im Europarat. Das heißt, der Europarat kann erstmal nicht direkt Dinge in den souveränen Mitgliedstaaten verändern. Aber er kann und muss transparent machen, wie die Lage ist, damit eine nationale Öffentlichkeit in den jeweiligen Mitgliedstaaten und alle anderen Mitgliedstaaten das bewerten können.

Es gibt eine Institution, mit der der Europarat direkte Durchgriffsrechte bis hin zur nationalen Ebene hat. Das ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), da dessen Gerichtsurteile bindend sind. Das gibt es weltweit eigentlich nur beim EGMR, dass sich mehrere Staaten einer übergeordneten Gerichtsbarkeit unterwerfen.

Beispielweise hat Russland die Urteile des EGMRs einfach ignoriert. Welche Anreize wären nötig, damit autokratisch regierte Staaten Menschenrechte schützen?

Wir sind eine Dialog-Organisation und reden mit den Ländern darüber, wie man Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verbessern kann. Aber wir brauchen auch Sanktionsmöglichkeiten. Und die letzte Sanktion ist, dass ein Land nicht mehr Mitglied im Europarat sein kann. Wenn ein Land sich an absolut gar nichts hält von dem, was uns wichtig ist, dann kann man auch nicht mehr dabei sein. Und das Wichtigste ist die Umsetzung von Gerichtsurteilen.

Russland hat den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny nicht freigelassen, obwohl es dazu zahlreiche Gerichtsurteile gab. Auch die Mitgliedschaft der Türkei steht in Frage, weil Ankara gewichtige Urteile im Fall Osman Kavala und Selahattin Demirtas nicht umsetzt. Und wir diskutieren gerade auch über die Mitgliedschaft von Aserbaidschan, da in den letzten Jahren mehrmals die Kooperation mit der Parlamentarischen Versammlung verweigert und Berichterstatter nicht ins Land gelassen wurden. Wenn das unterbunden wird, dann ist die Arbeitsgrundlage entzogen. Und dann kann ein Land eigentlich auch nicht Mitglied sein. Wenn man diesen Ländern sowas durchgehen lässt, dann kommen natürlich demnächst  andere Länder und sagen: Moment, wenn die das nicht umsetzen und nicht einhalten müssen, warum müssen wir das alles tun? Wenn das um sich greift, kann man die Organisation im Grunde genommen auch vergessen.

Welche Nachteile ergeben sich, wenn man wie Russland aus dem Europarat ausgeschlossen wird, für das ausgeschlossene Land?

Der Europarat hat ganz viele Konventionen. Die bekannteste ist wahrscheinlich die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Und es hilft Nationalstaaten, solche Themen in nationales Recht zu implementieren. Wenn man nicht mehr dabei ist, dann wirft das die rechtsstaatliche Entwicklung massiv zurück. Aber scheinbar will Russland das ja auch. Eigentlich ist Russland auch verpflichtet, die Gerichtsurteile, die ergangen sind, umzusetzen, auch wenn sie jetzt nicht mehr Mitglied des Europarates sind, aber das tun sie natürlich nicht.

Und welche Nachteile ergeben sich für den Europarat, wenn er Staaten ausschließt?

Wir hätten natürlich gerne einen ganzen europäischen Raum, der sich der Achtung der Werte von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten verschreibt. Und natürlich ist unser Ziel, dass alle Menschen in Europa Zugang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben, um dort ihre Rechte einzuklagen. Und wenn ein Staat nicht mehr Mitglied im Europarat ist, dann sind alle Menschen, die in diesem Staat leben, davon ausgeschlossen. Das ist natürlich bitter. Aber wenn der Staat auch als Mitgliedstaat die Rechte und die Gerichtsurteile nicht respektiert, dann ist es ja im Grunde genommen auch egal.

Inwiefern hat sich die Arbeit des Europarates über die vergangenen Jahre verändert?

Ich glaube, dass die Debatten heute deutlich kontroverser sind, als sie es früher waren. Das ist der Lage geschuldet, dass mehr und mehr Länder sich autokratisch entwickeln und das mit den Menschenrechten nicht mehr ganz so wichtig finden.

Wenn es den Europarat nicht gäbe, dann …

… müsste man ihn gründen, weil er die wichtigste Menschenrechtsinstitution Europas ist. 

Der Europarat in drei Worten?

Würde. Rechte. Freiheit.

Was wünschen Sie dem Europarat zum 75. Geburtstag?

Ich wünsche dem Europarat, dass sich seine Mitgliedstaaten bewusst werden, welchen hohen Wert dieser für die Menschen hat, die in Europa leben. Und ich wünsche dem Europarat, dass seine Mitgliedstaaten die Werte des Europarats konsequent leben und an seine Regeln halten.

Zur Person

Frank Schwabe (SPD) ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2014 Sprecher für Menschenrechte und humanitäre Hilfe der SPD-Bundestagsfraktion. Außerdem ist er Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PVER); seit 2022 leitet er die deutsche Delegation in der PVER.

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