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Ausschuss-Reise „Japan hat die älteste Bevölkerung der Welt“

Wie geht Japan mit den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft um? Um das herauszufinden, ist der Arbeitsausschuss dorthin gereist. Hier berichtet der Vorsitzende Bernd Rützel (SPD) über Strategien gegen den Fachkräftemangel, unterschiedliche Arbeitseinstellungen und Erfahrungen mit Robotern.

Zwei ältere japanische Menschen beim Joggen

Japan hat eine niedrige Geburtenrate und traditionell wenig Zuwanderung. „Für die Arbeits- und Sozialpolitik eine große Herausforderung“, erklärt Bernd Rützel. © shutterstock.com/ imtmphoto

Mit dem Ausschuss für Arbeit und Soziales waren Sie in Japan, um über die Herausforderungen alternder Gesellschaften zu sprechen. Wie ist denn die demografische Situation in Japan?

Japan hat die älteste Bevölkerung der Welt. In Deutschland sieht es allerdings auch nicht viel anders aus, insofern kann man das ganz gut vergleichen. In Japan kommt aber erschwerend hinzu, dass die Geburtenrate mit 1,3 Kindern sehr niedrig ist. Da sind wir zum Glück besser aufgestellt. Und Japan hat auch traditionell sehr wenig Zuwanderung. Lange hat das Land sich komplett abgeschottet und auch heute ist es noch sehr restriktiv in dieser Hinsicht.

Welche Herausforderungen ergeben sich aus dem hohen Altersschnitt?

Es gibt einen riesigen Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel, wie bei uns auch. Vor allem in Bereichen wie beispielsweise Gesundheit und Pflege oder Bau. Und das wird noch schlimmer werden. Das ist die Situation am Arbeitsmarkt. Und das bedeutet natürlich auch, dass zu wenige in die Sozialsysteme einzahlen. Dadurch muss jeder Einzelne länger arbeiten. Für die Arbeits- und Sozialpolitik ist dies eine große Herausforderung.

Wie hoch ist denn aktuell das Renteneintrittsalter in Japan?

Das liegt bei 60. Allerdings fordern die Gewerkschaften, es auf 65 zu erhöhen. Da denkt man erst mal: Was ist denn da los? Man muss aber wissen, dass die Menschen in Japan zwar regulär mit 60 in Rente gehen – die Rentenzahlung aber erst mit 65 richtig beginnt. In den fünf Jahren dazwischen haben sie also sehr wenig.

Wir haben uns mit Arbeitgebern getroffen. Die sagen: Wenn die Leute 60 sind, beschäftigen wir ein Drittel weiter. Das sind Fachkräfte, Leistungsträger, die wir brauchen. Ein weiteres Drittel wird ebenfalls weiter beschäftigt – allerdings nur unter der Bedingung, dass die Leute auf 40 bis 50 Prozent ihres Lohns verzichten. Also ganz normal weiterarbeiten für das halbe Geld. Und die Leute machen das, weil sie sonst eben ohne irgendein Einkommen dastünden. Das letzte Drittel wird rausgeworfen. Die haben dann wirklich gar nichts.

Deshalb fordern die Gewerkschaften die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bis 65, damit es überhaupt eine Absicherung für ältere Menschen gibt.

Zustände, die für uns kaum vorstellbar sind

Die Japaner haben eine andere Arbeitseinstellung. Es hat dort 30 Jahre lang keine Reallohnerhöhung gegeben. Und darüber hat sich auch niemand beschwert. Viele heben sich ihren Urlaub auf für den Fall, dass sie krank werden – denn dann nimmt man selbstverständlich Urlaub. Und wenn man dem Unternehmen am Ende des Jahres noch ein paar Tage Urlaub schenkt, macht das einen guten Eindruck.

Aber da zeigt sich ein Wechsel an. Die junge Generation macht das so nicht mehr mit. Und das finde ich auch richtig.

Warum setzt man denn nicht stärker auf die älteren Arbeitnehmer, wenn es einen so massiven Fachkräftemangel gibt?

Die Unternehmen sind natürlich ergebnisorientiert. Wir dachten immer, dass in Japan die Digitalisierung weit fortgeschritten sei. Das ist überhaupt nicht der Fall. Die liegen weit hinter Deutschland zurück. Das hat mich total überrascht. Wenn nun in dem Bereich etwas vorangehen soll, ist es natürlich schwer, das mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern umzusetzen, die keine entsprechenden Kenntnisse haben. Für diese Aufgaben braucht man unbedingt auch junge Leute.

Wenn man nicht stärker auf ältere Arbeitnehmer setzen will, welche anderen Lösungsansätze gibt es dann in Japan für die demografischen Herausforderungen?

Die Japaner wissen, dass sie ein großes Problem haben. Das haben alle Akteure erkannt. Aber es fehlt tatsächlich die passende Antwort darauf.

Die Erwerbstätigkeit der Frauen müsste zum Beispiel massiv erhöht werden. Das hat uns der Arbeitsminister persönlich gesagt. Das ist aber ein sehr schwieriges Unterfangen, weil das Rollenbild, dass Frauen zuhause bleiben, um Kinder zu kriegen und zu erziehen, gesellschaftlich so fest verankert ist. Da ist Japan wirklich sehr traditionell. Außereheliche Kinder sind die absolute Ausnahme. Deshalb ist die Abtreibungsrate sehr hoch. Darüber war ich äußerst erstaunt. Die Aufteilung ist ganz klar: Der Mann arbeitet sehr viel und die Frau bleibt zuhause – egal, wie gut sie ausgebildet ist.

Ein anderer Ansatz ist, mehr Robotik einzusetzen, um Menschen zu ersetzen.

Man hört ja immer, dass es in Japan weniger Vorbehalte dagegen gibt, dass Roboter Arbeiten ausführen, die sonst Menschen machen würden…

Wir haben da zwei sehr unterschiedliche Beispiele erlebt – ein sehr positives und ein sehr negatives.

In Tokio haben wir ein Robot Café besucht. Das war technisch nichts Besonderes, aber wir waren alle extrem begeistert. Denn hinter jedem Roboter, der dort bediente, steckte ein Mensch, der nicht mehr am Arbeitsleben teilhaben kann, durch eine schwere Krankheit oder einen Unfall etwa. Sie sitzen vielleicht im Rollstuhl oder sind ans Bett gebunden und steuern an einem Rechner diese Roboter. Als wir uns an einen Café-Tisch gesetzt haben, kam so ein Roboter, wir haben miteinander geredet, er hat uns gesehen, wir haben ein Foto vom Menschen hinter der Maschine gesehen und etwas über seine Geschichte erfahren. Und dann hat er uns bedient und wir haben uns unterhalten – eine Arbeit, für die er auch bezahlt wird. Diese Inklusion, diese Teilhabe hilft den Menschen extrem. Ein phantastisches Projekt.

Und das Negativbeispiel?

Wir haben ein Pflegeheim mit Roboter-Einsatz besichtigt, auf das die japanische Politik auch sehr stolz war. Das klingt erst mal vielversprechend, da es in der Pflege wie gesagt hier wie dort einen großen Fachkräftemangel gibt. In der Realität war es aber sehr ernüchternd. Im Prinzip gab es einfach ein paar Roboter-Tiere und -Puppen, die den Kopf bewegen, mit den Augen rollen, ein Lied singen können. Das ist im Prinzip eher Spielerei. Ich weiß, dass etwa Demenzkranke sich über diese Art von Ansprache freuen. Aber das hilft ja nicht, die fehlenden Fachkräfte zu ersetzen.

Sie haben vorhin kurz das Thema Migration angesprochen. Das wäre ja auch eine Option, sich stärker für Fachkräfteeinwanderung zu öffnen.

Darüber denken die Japaner natürlich auch nach. Die Sprache ist dabei allerdings eine große Hürde. Wir haben Menschen kennengelernt, die seit zehn Jahren intensiv Japanisch lernen und die Sprache allmählich beherrschen.

Ein zweites riesengroßes Problem ist, dass es fast unmöglich ist, die japanische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Wenn zum Beispiel ein Deutscher eine Japanerin heiratet und mit ihr Kinder bekommt, hat er trotzdem keine Aussicht auf eine Staatsbürgerschaft. Das ist wirklich extrem restriktiv. Und die Japaner haben auch kein Interesse daran, die Regelungen zu lockern.

Vieles von dem, was Sie erzählen, klingt weit weg von unserer Realität in Deutschland. Haben Sie trotzdem Punkte gefunden, in denen Deutschland von Japan lernen kann, wenn es um Arbeits- und Sozialpolitik geht?

Ehrlich gesagt: wenig. Natürlich kann man immer voneinander lernen. Was uns gut gefallen hat, war die Wertschätzung des Alters, der Respekt gegenüber älteren Menschen. Grundsätzlich ist das gesellschaftliche Leben sehr von gegenseitigem Respekt geprägt. Wenn man in einen Bus einsteigt, würde sich da niemand vordrängeln und sich so einen persönlichen Vorteil verschaffen. Was ich noch besonders erwähnen möchte ist, dass die Straßen und Plätze sehr sauber sind und die Menschen extrem freundlich. Man fühlt sich dort sehr wohl.

Im Gesellschaftlichen gäbe es also durchaus Punkte, bei denen wir uns etwas abschauen könnten. Im Politischen sind wir in vielen Bereichen besser aufgestellt. Aber das ist ja auch eine Erkenntnis, wenn man zurückkommt und denkt: So schlecht ist es bei uns gar nicht.

Konferenzraum mit Politikern

Der Arbeitsausschuss zu Gast im japanischen Unterhaus. © Florian Pengel

Gruppenbild vor einem Mahnmal mit Blumenkranz

In Hiroshima legte die Delegation einen Kranz nieder, um der Opfer des Atombombenabwurfs 1945 zu gedenken. Bernd Rützel ist im Bild der Dritte von links. © Florian Pengel

Zur Person

Bernd Rützel

Bernd Rützel, 1968 geboren, hat Maschinenbau und Elektrotechnik studiert. Er war lange bei der Deutschen Bahn tätig, bevor er 2013 für die SPD in den Bundestag einzog. In dieser Legislaturperiode sitzt er dem Ausschuss für Arbeit und Soziales vor.

Mehr erfahrt ihr auf seinem Profil auf bundestag.de.

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