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Bürgerrat „Stimmen hören, die sonst fehlen“

Nach der Sommerpause soll der erste Bürgerrat der Legislaturperiode seine Arbeit aufnehmen. Morgen stimmen die Abgeordneten über das Thema ab. Jochen Guckes aus der Stabsstelle Bürgerräte erklärt, was ein gutes Thema ausmacht, wie die Teilnehmenden ausgewählt werden und wie ihre Arbeit im Bürgerrat dann konkret aussehen wird.

Interview-Partner Gucke im Portrait

„Wir sind das erste große Parlament weltweit, bei dem ein Bürgerrat im Auftrag des Plenums arbeitet“, sagt Jochen Guckes. © mitmischen/Julia Karnahl

Der Ältestenrat des Bundestages hat im April 2022 beschlossen, in dieser Legislaturperiode bis zu drei Bürgerräte einzusetzen. Was genau ist denn ein Bürgerrat überhaupt?

Bürgerräte sind Versammlungen von per Los zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern. Sie kommen zusammen, um sich sehr intensiv mit einem Thema zu befassen und am Ende Handlungsempfehlungen an die Politik abzugeben.

Wichtig dabei ist, dass durch die Zufallsauswahl ein wirklich breites Abbild der Bevölkerung entsteht. Hier kommen Menschen zusammen, die sich sonst vermutlich nie im Leben getroffen hätten, die Fabrikbesitzerin und der Arbeitslose zum Beispiel, und versuchen, einander zuzuhören und den Standpunkt des Anderen ernst zu nehmen. Die Erfahrung zeigt, dass das tatsächlich funktioniert. Die Menschen reden sehr ernsthaft miteinander und erkennen oft: Okay, das ist nicht so einfach, wie ich mir das vorgestellt habe, man muss viele verschiedene Aspekte berücksichtigen. So kommen am Ende Lösungsvorschläge zustande, die mehr als eine Perspektive beinhalten, die das große Ganze im Blick haben.

Inwiefern können Bürgerräte die parlamentarische Arbeit bereichern?

Bürgerräte sind eine neue Möglichkeit, Stimmen zu hören, die sonst als Input ins parlamentarische System fehlen.

Man kann natürlich Umfragen machen, aber dabei kommt am Ende nur ein schlichtes Ja oder Nein raus. Es gibt Enquete-Kommissionen, aber da sitzen Experten zusammen, nicht Menschen mit ihrer Alltagsperspektive. Dann gibt es Wahlkreis-Sprechstunden, aber auch da kommt kein breiter Bevölkerungsschnitt. Und in den Medien sind oft einzelne Gruppen besonders stark präsent, einfach weil sie am lautesten sind.

Durch die Zufallsauswahl hat man im Bürgerrat aber ein wirklich buntes Bild von den Menschen in Deutschland. Und von ihnen will der Bundestag ganz ergebnisoffen wissen: Wo steht die Bevölkerung? Wo sieht sie Prioritäten? Was ist sie bereit mitzumachen?

So viel zur Theorie. Jetzt zur Praxis: Wann geht es los mit dem ersten Bürgerrat?

Der erste Bürgerrat soll mit 160 Teilnehmenden nach der parlamentarischen Sommerpause starten. Für den 29. September ist die offizielle Eröffnung durch die Bundestagspräsidentin geplant. Bis dahin passiert im Hintergrund aber schon ganz viel. Wir starten zum Beispiel schon jetzt mit der Zufallsauswahl – das ist nämlich gar nicht so einfach.

Wie werden die Bürgerinnen und Bürger denn ausgewählt?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Der Bundestag hat sich für ein mehrstufiges System entschieden. Das funktioniert so: Man wählt erst mal Gemeinden verschiedener Größe aus ganz Deutschland aus: Dorf, Kleinstadt, Großstadt. 20.000 Menschen aus diesen Gemeinden werden angeschrieben und gefragt, ob sie bereit wären, beim Bürgerrat mitzumachen.

Dann würfelt ein Computer-Programm die positiven Rückmeldungen nach einem Algorithmus so zusammen, dass ein ziemlich genaues Abbild der Bevölkerung entsteht. Das heißt, Menschen aller Altersgruppen, mit allen Bildungsgraden und so weiter sind entsprechend ihres Anteils in der Bevölkerung vertreten. Denn wir wollen nicht nur Lehrerinnen im Ruhestand und Journalisten, sondern wir wollen auch jemanden, der einen Hauptschulabschluss hat, der Handwerker ist oder arbeitslos.

Es werden also auch Jugendliche dabei sein?

Auf jeden Fall. Wir laden Menschen ab 16 Jahren ein, die in Deutschland ihren Erstwohnsitz haben. Wir haben also eine breitere Gruppe als die der Wählerinnen und Wähler, denn wählen kann man aktuell ja erst ab 18 Jahren, und auch nur wenn man die deutsche Staatsangehörigkeit hat.

Ist schon klar, mit welchem Thema sich der erste Bürgerrat beschäftigen wird?

Das legen die Abgeordneten am 10. Mai fest. Interfraktionell wurde das Thema „Ernährung im Wandel“ vorgeschlagen, darüber wird abgestimmt.

Neuigkeiten zum Thema findet ihr auf der Unterseite „Bürgerräte“ auf bundestag.de.

Was macht ein gutes Thema aus?

In der letzten Legislaturperiode gab es als Modell-Projekt schon mal einen Bürgerrat unter der Schirmherrschaft des damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble. Dessen Thema lautete „Deutschlands Rolle in der Welt“. Im Nachhinein waren sich alle einig, dass dieses Thema viel zu breit gefasst war. Es waren zwar alle begeistert von der Arbeit und der Atmosphäre im Bürgerrat, aber es war schwierig, konkrete Empfehlungen zu erarbeiten. Diesmal wollen wir deutlich fokussierter sein.

Es gibt ein paar Kriterien, wann ein Bürgerrat wirklich sinnvoll ist. Etwa bei sogenannten Werteentscheidungen. In Irland gab es zum Beispiel Bürgerräte zu den Themen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe. Oder in Dilemma-Situationen, in denen verschiedene Ziele, die miteinander nicht vereinbar sind, gegeneinander abgewogen werden müssen. Oder bei Fragen der Prioritätensetzung: Was sollen wir zuerst machen? Wofür sollen wir am meisten Geld ausgeben? Und wer soll das bezahlen?

Wie funktioniert die Arbeit im Bürgerrat genau?

Es wird drei Arbeitswochenenden geben, an denen die Menschen in Präsenz zusammenkommen. Wir bilden 20 Arbeitsgruppen à acht Personen. Pro Gruppe gibt es einen Moderator oder eine Moderatorin und jemanden, der Protokoll führt. Außerdem gibt es Experten, die Input geben: Wissenschaftler, Praktikerinnen oder Betroffene. Wichtig ist, dass die Experten die ganze Breite der Meinungen in der Bevölkerung spiegeln. Es gibt also keine Positionen, die wir von vorneherein aussortieren. Die Bürgerinnen und Bürger sollen selbst entscheiden, was sie überzeugend finden.

Was passiert am Ende mit den Empfehlungen des Bürgerrats?

Die Empfehlungen werden in einem Bürgergutachten zusammengefasst. Das wird der Bundestagspräsidentin übergeben. Außerdem wird es als Bundestagsdrucksache veröffentlicht. Somit kann jeder es im Internet nachlesen. Zudem bekommen die relevanten Ausschüsse dieses Gutachten zur Beratung überwiesen. Das heißt, dass sie sich sehr ernsthaft damit auseinandersetzen und überlegen, ob politische Handlungen daraus folgen müssen. Die Entscheidungen treffen natürlich weiterhin die Abgeordneten. Aber sie bekommen dafür eben wichtigen Input.

In anderen Ländern, in Irland zum Beispiel, sind Bürgerräte schon ein fester Bestandteil der politischen Arbeit. Gibt es da einen Austausch, auch zwischen den Verwaltungen der Parlamente?

Wir haben uns sehr genau angehört, wie die Kolleginnen und Kollegen das in anderen Ländern machen. Irland wird immer zuerst genannt, wenn es um Bürgerräte geht. Das schottische Regionalparlament hat auch einiges gemacht. In Ostbelgien gibt es ein schon stark institutionalisiertes Verfahren. In Österreich ist das Bundesland Vorarlberg sehr aktiv. Und in Deutschland ist Baden-Württemberg Pionier. Wir hatten aber auch Kontakt zur Europäischen Union, wo es die Konferenz zur Zukunft Europas gab.

Da haben wir überall viel gelernt. Wir sind jetzt allerdings das erste große Parlament weltweit, bei dem ein Bürgerrat im Auftrag des Plenums arbeitet. Insofern sind die anderen auch gespannt, was bei uns passiert.

Zur Person

Dr. Jochen Guckes

Dr. Jochen Guckes ist Referent in der Stabsstelle Bürgerräte. Er kümmert sich darum, die Bürgerräte des Deutschen Bundestages organisatorisch zu begleiten und eine enge Verbindung zwischen Abgeordneten und Bürgerräten zu ermöglichen. Er hat Geschichte, Politik und Volkswirtschaft in Freiburg, Ann Arbor (Michigan, USA) und an der HU Berlin studiert. In der Bundestagsverwaltung ist er seit 2012 tätig. Vor seinem Wechsel in die Stabsstelle Bürgerräte war er in den Bereichen Jugendprojekte des Besucherdienstes und Internationale Parlamentsberatung tätig.

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