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Europa Vom demokratischen Feigenblatt zum echten Parlament

Für ihre Arbeit über die Anfänge des Europäischen Parlaments bekam Mechthild Roos den Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages verliehen. Hier erzählt sie, warum die EU ihrer Meinung nach noch stärker auf ihr Parlament setzen sollte.

Preisträgerin Roos (links) mit der Bundestagspräsidentin

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas überreichte nicht nur die Urkunde, sondern diskutierte auch mit Mechthild Roos und dem zweiten Preisträger. © DBT/Florian Gaertner/photothek

In Ihrer Dissertation haben Sie sich mit den Anfängen des Europäischen Parlaments beschäftigt. Was fasziniert Sie an diesem Thema?

Ich habe angefangen, mich dafür zu interessieren, als ich an der Uni Luxemburg meinen Master in Europäischer Zeitgeschichte gemacht habe. Das war eine Mischung aus Geschichte und Politikwissenschaft – und das Thema EU Governance spielte eine große Rolle. Für meine Promotion hat mich dann die Frage interessiert, wie das europäische Einigungsprojekt es schafft, die Menschen einzubeziehen und zu repräsentieren. Und da war ich relativ schnell beim Europäischen Parlament.

Das europäische Projekt sollte ja von Anfang an keine reine Wirtschaftsgemeinschaft sein, sondern etwas Größeres: ein Friedenprojekt, ein Vereinigungsraum für seine Bevölkerung. Und schon ganz am Anfang hat eine Gruppe engagierter Menschen es in die Richtung gestaltet, auch jenseits von Verträgen, das fand ich spannend. Denn in den Verträgen steht nur sehr wenig zum Europäischen Parlament, das als solches zunächst gar nicht vorgesehen war.

Wie war es denn vorgesehen?

Der Vorgänger der Europäischen Union war die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die 1952 gegründet wurde. In deren Gründungsvertrag stand ganz bewusst nichts von einem Parlament. Stattdessen gab es eine „gemeinsame Versammlung“ nationaler Abgeordneter aus den Mitgliedsländern. Die sollten sich nur einmal im Jahr in Luxemburg treffen, um zu bewerten: Ist das, was die Hohe Behörde (die Vorgängerin der heutigen Europäischen Kommission) macht, in Ordnung? Das war’s. Nun waren aber die Abgeordneten der Versammlung mit dieser Rolle nicht zufrieden, überhaupt nicht. Sie haben gesagt: Diese Gemeinschaft darf nicht nur ein technokratisches Konstrukt sein. Es braucht eine demokratische Verwurzelung in der Bevölkerung.

Deshalb haben diese Abgeordneten vom ersten Jahr an angefangen, sich öfter zu treffen. Sie durften natürlich nicht gegen die Verträge verstoßen, und darin stand nun mal, dass sie nur einmal im Jahr tagen. Das haben sie so gelöst, dass sie an einem Tag diese jährliche Versammlung eröffneten und sie dann immer wieder unterbrachen, um sie erst nach zwölf Monaten zu schließen und die nächste zu eröffnen.

Diese Versammlung bildete auch sehr schnell Fraktionen und Ausschüsse. Obwohl auch das nicht vorgesehen war. Die Abgeordneten haben also sehr aktiv ihre eigene Rolle mitgestaltet. Es ist nicht zu unterschätzen, welchen Einfluss eine Institution entwickeln kann, wenn sie es schafft, Routinen zu entwickeln, die dann irgendwann von allen anerkannt werden. In jedem Vertrag hat das Europäische Parlament neue Zuständigkeiten bekommen, die es sich aber effektiv in der Regel vorher schon erarbeitet hatte.

Bis das Europäische Parlament dann 1979 zum ersten Mal direkt gewählt wurde…

Die erste direkte Wahl war natürlich ein wichtiger Schritt. Wobei vorab viel diskutiert wurde, wie das Ziel der Parlamentarisierung am besten zu erreichen sei. Ob es besser wäre, erst mehr Macht zu erlangen, damit die Menschen dann auch zur Wahl gehen, weil das Parlament tatsächlich etwas zu sagen hat. Oder ob es sinnvoller wäre, erst Direktwahlen durchsetzen, um dann den Staats- und Regierungschefinnen und -chefs sagen zu können: Guckt mal, wir sind die einzige direkt gewählte Institution der Gemeinschaft, ihr müsst uns mehr Mitsprache zugestehen. Letztlich hat man sich für die letztere Variante entschieden – und das hat ja auch geklappt.

Man hört oft, dass die Menschen sich durch die EU nicht ausreichend vertreten fühl(t)en. Wie anerkannt ist das Europäische Parlament aus Ihrer Sicht heute bei Europäerinnen und Europäern?

Den Vorwurf des demokratischen Defizits muss die EU bis heute ertragen, das stimmt. Erstaunlicherweise ist das Europäische Parlament aber eine der populärsten Institutionen der EU. In Umfragen liegt es mitunter sogar vor den nationalen Parlamenten und Regierungen. Es ist zum Beispiel ganz interessant, sich anzuschauen, wie populär das Europäische Parlament in der Zeit unmittelbar vor dem Brexit war – bei allem EU-Bashing, was da sonst stattgefunden hat.

Ich glaube, das ist ein Argument, dass die EU noch viel mehr ausschöpfen könnte. Sie könnte relativ einfach Kompetenzen ans Parlament abgeben, wo die demokratische Repräsentation am deutlichsten ist. Im Rat sitzen natürlich auch nur demokratisch gewählte Politikerinnen und Politiker. Aber das Parlament ist eben die einzige direkt gewählte Institution. Sie ist schon lange nicht mehr das demokratische Feigenblatt für Europapolitik, das sie am Anfang war. Aber sie könnte sich noch viel mehr zu einem richtigen Parlament hin entwickeln.

Wie zum Beispiel?

Man könnte damit anfangen, dass man dem Parlament die Spitzenkandidatur für das Amt des Kommissionspräsidenten oder der Kommissionspräsidentin zugesteht. Die Kandidatinnen und Kandidaten müssten eine Kampagne fahren und den Menschen erklären, wofür sie stehen, was sie vorhaben. So hätte die Bevölkerung wahrscheinlich mehr den Eindruck, dass sie mitbestimmen kann, als wenn irgendeine Kandidatin vom Rat aus der Hinterhand gezaubert wird wie beim letzten Mal.

Es scheint so, als läge Ihnen der Parlamentarismus wirklich sehr am Herzen. Wie sehr haben Sie sich über den Preis des Bundestages gefreut? Und wie war die Preisverleihung?

Die Preisverleihung war unheimlich schön. Ich bin da wirklich sehr beschwingt rausgegangen. Und zwar vor allem, weil wir sogar noch besser als erhofft miteinander reden konnten: die Präsidentin des Deutschen Bundestages, der zweite Preisträger Oliver Haardt, der über den Reichstag in der Bismarck-Zeit forscht, und ich, die sich mit dem Europäischen Parlament befasst. Obwohl das völlig unterschiedliche Zeitperioden und auch unterschiedliche Institutionen sind, haben wir unheimlich viel Gemeinsames gefunden, was zum Beispiel die Alltagsarbeit, aber auch die Herausforderungen für Parlamente angeht. Die Diskussion fand ich enorm inspirierend.

Der Preis bedeutet mir in zweierlei Hinsicht viel. Zum einen habe ich mich gefreut, dass auch eine Arbeit über das Europäische Parlament ausgezeichnet und anerkannt wurde in ihrer Bedeutung für die Parlamentarismus-Forschung. Und für mich persönlich kam die Auszeichnung zu einer perfekten Zeit, weil ich, seit ich zwei kleine Kinder habe, sehr darum ringe, im Wissenschaftsbetrieb nicht nur als Mutter, sondern auch als Gehirn anerkannt zu werden. Hier bescheinigt zu bekommen, dass ich auch noch auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau denken kann, war eine schöne Anerkennung.

Neben dem Wissenschaftspreis verleiht der Deutsche Bundestag auch regelmäßig den Medienpreis Parlament und den Deutsch-Französischen Parlamentspreis. Mehr über die Parlamentspreise erfahrt ihr hier.

Wissen Sie schon, was Sie mit dem Preisgeld machen werden?

Die Hälfte ist schon weg, die habe ich gespendet. Ein Viertel ging an das „Grandhotel Cosmopolis“, einen lokalen Verein hier in Augsburg, der sich um die gesellschaftliche Integration von Geflüchteten kümmert. Das ist thematisch sehr nah an meiner Habilitation, die ich gerade zum Gesundheitszugang Geflüchteter in der EU schreibe. Ein weiteres Viertel ging an die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, von deren Arbeit ich sehr überzeugt bin. Und die verbleibende Hälfte des Preisgeldes wird vermutlich in die Familie gehen.

Zur Person

Mechthild Roos

Mechthild Roos hat in Dresden ihren Bachelor in Geschichte und germanistischer Sprach- und Kulturwissenschaft gemacht und anschließend in Luxemburg den Master in Europäischer Zeitgeschichte. Dort promovierte sie dann 2021 mit der ausgezeichneten Arbeit „The Parliamentary Roots of European Social Policy. Turning Talk into Power“. Nach Forschungsprojekten unter anderem in Canterbury und Glasgow kam sie an die Uni Augsburg, wo sie aktuell in der vergleichenden Politikwissenschaft habilitiert.

Eindrücke von der Preisverleihung bekommt ihr im Video:

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