Alevitische Jugend „Wir sind ein Safe Space für Jugendliche“
Mira Knauf
Die Aleviten wurden in der Vergangenheit oft unterdrückt und kämpfen noch immer um Anerkennung ihrer Religion. Beim Bund der Alevitischen Jugendlichen finden junge Aleviten einen geschützten Raum, erzählt Özge Erdoğan.
Migrantische Selbstorganisation bezeichnet Zusammenschlüsse von sogenannten migrantisierten Menschen, die sich gemeinsam organisieren, um zum Beispiel Projekte umzusetzen oder etwa Vereine zu gründen. Migrantisiert heißt, dass in diesen Organisationen Menschen zusammenkommen, die einen Migrationshintergrund haben oder so wahrgenommen werden, als hätten sie einen.
Im Bereich migrantische Selbstorganisation gibt es ganz verschiedene Vereinigungen und Initiativen. In meinem Verband, dem Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e.V. (BDAJ), wird die junge alevitische Gemeinschaft vertreten.
Der BDAJ ist eine Interessenorganisation junger Alevitinnen und Aleviten, die zum Beispiel außerschulische Bildungsarbeit, Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und Raum für eigenes Engagement anbietet.
Wir möchten Jugendliche dazu motivieren, sich aktiv an der Gesellschaft zu beteiligen, und so auch ihren Lebensraum und ihr Lebensumfeld mitzugestalten. Dabei spielt die alevitische Lehre eine große Rolle. Die möchten wir an die jüngere Generation in unserem Verband weitergeben. Für die Jugendlichen ist der religiöse Teil ihrer Identität sehr wichtig, viele engagieren sich genau deshalb bei uns.
Das Alevitentum ist ein eigenständiger Glaube, der aus Anatolien kommt. In unserer Lehre sind Liebe und Toleranz besonders wichtig. Aber auch die Gleichstellung der Geschlechter, eine starke Naturverbundenheit und Hilfsbereitschaft gehören zu unserer Religion. Die Aleviten glauben, dass etwas Göttliches in allem Leben und die Seele unsterblich ist. Und die Aleviten sind überzeugt, dass der Einsatz für die Gemeinschaft etwas sehr Wertvolles sein kann. Und das leben wir auch in unserer Jugendorganisation.
Unsere Geschichte und unsere Gegenwart sind von Unterdrückung und Verfolgung geprägt. Auch heute werden wir oft angefeindet und erleben antialevitischen Rassismus, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland, hier vielleicht sogar in neuen Formen. Wir erfahren Benachteiligung in verschiedenen Bereichen. Dieser Rassismus hat teilweise schwere psychische Auswirkungen und kann traumatisierend sein. Unsere Kinder und Jugendlichen bekommen den antialevitischen Rassismus oft von klein auf zu spüren.
Ein Verband wie der unsere stellt einen Safe Space dar, einen geschützten Raum, der sonst nirgends für uns gegeben ist. Hier können die jungen Menschen Empowerment erfahren – also lernen, wie sie für sich selbst einstehen und wirksame Schutzmaßnahmen entwickeln können. Ihre Identität wird bei uns nicht angezweifelt und sie müssen sich nicht erklären.
Die alevitische Gemeinschaft hat Diskriminierung zunächst in der Türkei erlebt. Viele Aleviten erleben ihn dort noch heute. Den antialevitischen Rassismus in Deutschland in seiner Gänze zu beschreiben, würde hier den Rahmen sprengen. Aber antialevitischer Rassismus in Deutschland äußert sich unter anderem, wenn unsere Gemeinschaft von der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert wird. Oder wenn die alten Vorurteile aus der Türkei einfach in der deutschen Gesellschaft übernommen werden. So werden zum Beispiel Gerüchte weitererzählt, ohne dass sich die Menschen informieren, ob daran überhaupt etwas Wahres ist.
Es gab 2007 beispielsweise eine Tatort-Folge – ein Krimi, der in der ARD läuft – in der solche Stereotype aufgegriffen und verbreitet wurden. Eines der gängigsten und schlimmsten Vorurteile für uns ist die Behauptung, dass Inzest bei den Aleviten üblich ist. In der Vergangenheit wurde dieses Gerücht zu unserer Verfolgung eingesetzt. Leider hat es bis heute Bestand – und war auch Teil dieser Tatort-Folge. Die Alevitische Gemeinde war damals sehr empört darüber und hat protestiert. Leider wurde deutlich, dass wir mit Widerstand und Protest oft allein dastehen. Es fehlt in solchen Situationen eine communityübergreifende Solidarität im größeren Umfang.
Es ist häufig so, dass migrantisierte Verbände auf ihre kulturellen Gepflogenheiten reduziert werden. Das heißt oft: Es geht um Essen, Musik oder Tänze.
Das ist auch wichtig, denn es trägt dazu bei, dass wir stärker wahrgenommen werden und dass verschiedene Kulturen sichtbarer werden. Aber bei unserer Gemeinschaft – und vielen anderen – geht es um mehr: Wir möchten auch auf die Probleme und Herausforderungen aufmerksam machen, die unsere Gemeinschaft betreffen. Mein Eindruck ist, dass wir als kulturelle Bereicherung wahrgenommen werden, solange es um ausgefallenes Essen, Folklore oder „gut integrierte” Menschen geht, vor allem auf lokaler Ebene. Aber wenn wir auf Missstände aufmerksam machen, wird das als Beschwerde und als lästig empfunden. Das betrifft andere Gruppen wahrscheinlich stärker als uns, ist aber dennoch problematisch.
Die Alevitische Gemeinde leidet zum Beispiel darunter, dass wir teilweise noch immer nicht als eigenständige Religionsgemeinschaft anerkannt werden in der Gesellschaft – obwohl wir das sind. Niemand von außen sollte marginalisierte religiöse Gemeinschaften in ihrem Wert einschränken.
Wichtig wäre zum einen, dass die Bürokratie im ehrenamtlichen Bereich abgebaut wird und insgesamt mehr Ressourcen zur Selbstorganisation von Verbänden wie dem unseren zur Verfügung gestellt werden. Das sind Probleme, mit denen alle Ehrenamtlichen zu kämpfen haben.
In Bezug auf migrantische Organisationen würde ich mir wünschen, dass wir von der Politik mehr Unterstützung bekommen und aufrichtige Wertschätzung erfahren. Und dass die Belange von migrantischen Organisationen wirklich ernst genommen werden und etwas unternommen wird, wo es nötig ist. Von den Herausforderungen, die beispielsweise Aleviten betreffen, sind natürlich nicht alle Menschen in Deutschland gleichermaßen betroffen, aber trotzdem sind unsere Bedürfnisse wichtig. Wenn wir zum Beispiel bedroht oder diskriminiert werden, weil wir alevitisch sind, bekommen wir oft zu hören, dass das nicht so schlimm sei wie grundsätzlicher Rassismus oder Rechtsextremismus. Das möchte ich nicht mehr hören, denn das eine Problem, sollte das andere nicht ausstechen.
Im Bereich bürgerschaftliches Engagement gibt es bereits viele Initiativen, die Wertschätzung für das Engagement ausdrücken – etwa durch Feste oder Preisverleihungen. Dennoch muss es immer ein Ziel von Politik und der Regierung bleiben, dieses Engagement noch stärker zu würdigen – indem mehr Ressourcen zu Verfügung gestellt werden, auch finanzielle, und indem die Sichtbarkeit erhöht wird. Das gilt besonders auch für das Engagement marginalisierter Gruppen.
Die Partizipation migrantischer Organisation in unserer Gesellschaft ist notwendig und wir alle können davon profitieren.
Özge Erdoğan
Özge Erdoğan ist 1992 in Ratingen geboren. Nach der Schule hat sie Geowissenschaften in Münster studiert. Durch ihre Motivation im ehrenamtlichen Engagement beim Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland wurde sie nach dem Studium im Bereich der Jugendarbeit tätig. Seit 2022 ist sie Geschäftsführerin beim Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland.