Sportwissenschaftler „400 Bewegungen pro Minute“
Na klar, E-Sport sei richtiger Sport, sagt Ingo Froböse und ist besorgt, dass unser Land weltweit den Anschluss verliert. Der Sportwissenschaftler über Herzfrequenzen, zögerliche Sportfunktionäre und die E-Sport-Wüste Deutschland.
Herr Froböse, mit E-Sport verbindet der Laie weder Bewegung noch sonst etwas gesundheitlich Positives. Ist das überhaupt richtiger Sport?
Ja, denn wir können eine ganze Reihe an körperlichen Reaktionen beobachten, die deutlich dem Schach oder selbst dem Bogenschießen überlegen sind. Die Herzfrequenzwerte sind wie bei Formel-1-Rennfahrern und die Cortisolwerte, also die Stresshormonwerte, sind mit denen beim 11-Meter-Schießen vergleichbar. Hinzu kommt aber auch noch eine hohe psychische Belastung und ganz viel taktisches Verständnis. Wenn man das alles zusammenfasst, dann zeigt der E-Sport viele Gemeinsamkeiten mit anderen Sportarten.
Und wie ist es mit körperlicher Fitness?
Aus wissenschaftlicher Perspektive wissen wir, dass eine gute körperliche Fitness notwendig ist, um hohe Leistungen erbringen zu können. Wir dürfen die E-Sportler deshalb nicht nur vor der Konsole betrachten; wir müssen auch ihren ganzen Lebensstil beobachten. Und da sehen wir dann durchaus, dass viele E-Sportler tatsächlich richtig sportlich unterwegs sind. Das ist ja auch das Schöne daran.
Sie haben gerade viele Gemeinsamkeiten zu anderen Sportarten aufgezählt. Bringt der E-Sport auch etwas mit sich, was andere Sportarten nicht mit sich bringen?
Ja, zum Beispiel die 300 bis 400 Bewegungen pro Minute, die die Sportler unter hohem Zeitdruck ausüben. Nehmen wir mal das Beispiel Schach: wie E-Sportler müssen auch Schachspieler sehr komplex denken, aber sie haben mehr Zeit zum Überlegen. Das ist im E-Sport nicht möglich. Die hohe Geschwindigkeit, die vielen Bewegungen und der Zeitdruck – das alles zusammengefasst ist wirklich einzigartig, das findet man fast in keiner anderen Sportart.
Wie kann man diese Fähigkeiten denn trainieren?
Man muss Koordination und das Zusammenspiel der rechten mit der linken Hand trainieren und das ist ganz schön schwer. Man muss aber auch seine Reaktionsfähigkeit und Bewegungsschnelligkeit schulen. Und diese Fähigkeiten kann man auch sehr schnell wieder verlieren. Wenn sie nicht vernünftig trainieren, sind viele Sportler mit 22 oder 23 Jahren schon am Ende ihrer Karriere.
Verstehe ich das richtig, dass E-Sport-Trainings nur vor dem Bildschirm stattfinden?
Es gibt natürlich richtige Schulungen mit dem jeweiligen Computerspiel. Es werden aber auch Tests durchgeführt, die von Psychologen entworfen wurden. Genau wie beispielsweise im Fußball gibt es Trainings, die mit dem Spiel auf den ersten Blick gar nicht so viel zu tun haben. Im Fußball wird das periphere Sehen trainiert, man muss schließlich erkennen könne, was sich in den Augenwinkeln abspielt. Und genau solche Trainings gibt es im E-Sport auch – sowohl vor dem Computer als auch in der Sporthalle.
Die Zahl der E-Sportler wächst konstant. Gibt es in Deutschland dafür ausreichend Strukturen, wie Vereine, Trainingsmöglichkeiten in der Stadt und auf dem Land oder die Qualität der Internetverbindung?
Deutschland ist eine E-Sport-Wüste, das muss man wirklich sagen. Köln und Berlin sind vielleicht Hotspots der Szene, aber danach hört es auch schon auf. Auch was die Digitalisierung betrifft, kommt Deutschland nicht optimal voran. Wir haben tatsächlich keine richtigen Strukturen und das ist fatal …
... hinzu kommt ja auch noch der Gegenwind aus dem organisierten Sport. Das Argument, Gaming sei ja wohl kein Sport, hört man immer wieder ...
… was ich für völlig absurd halte. Die traditionellen Sportorganisationen wehren sich sehr gegen den E-Sport, sie zeigen sogar mit dem Finger auf die Sportler, anstatt diese Jugendkultur zu unterstützen. Meines Erachtens sollte die ganze Gesellschaft mitarbeiten, damit wir nicht verlieren. Denn das erleben wir gerade: Wir verlieren sehr viel Terrain.
Sie meinen, andere Länder sind da schon viel weiter?
Ja. Spanien, Italien, Frankreich, viele osteuropäische oder skandinavische Länder sind schon sehr viel weiter. Stellenweise ist E-Sport in diesen Ländern schon Unterrichtsfach. Es gibt dort auch schon organisierte Ligen auf einem sehr hohen Niveau – von den USA und den asiatischen Ländern mal ganz zu schweigen. Also wenn wir im digitalen Bereich wirklich aktiv und erfolgreich sein wollen, dann müssen wir den E-Sport fördern. Und zwar so schnell wie möglich.
Der Deutsche Olympische Sportbund hält sich zurück. Woran liegt das?
Ich glaube, das liegt an einem völlig traditionellen Sportbild. Wir kennen das von anderen Sportarten, die sich nie weiterentwickeln konnten: Beim Windsurfen haben wir damals genauso gekämpft, denn die Segler wollten nicht mitmachen. Beim Snowboarden war es genauso, denn die Skifahrer waren dagegen. Was wir hier erleben, ist also nichts Neues. Ich glaube, dass die traditionellen Sportarten Angst um ihre Existenz haben.
Sind das begründete Ängste?
Der E-Sport wächst so schnell, dass andere Sportvereine in Zukunft vielleicht wirklich weniger Mitglieder haben werden. Aber gerade deshalb sollten die Leute, die die Entscheidungen im organisierten Sport treffen, den E-Sport endlich anerkennen. Ich bin mir sicher: die meisten Sportfunktionäre haben noch nie mit einem Profi-E-Sportler geredet und ihn mal gefragt: Was tust du da eigentlich, wie trainierst du, welchen Belastungen bist du ausgesetzt?
Was kann die Politik für den E-Sport tun?
Im Koalitionsvertrag wurde versprochen, dass der E-Sport gefördert wird. Passiert ist bisher aber gar nichts. Wir brauchen Fortschritte bei der Digitalisierung und wir brauchen 4G oder 5G Netze, auch in ländlichen Regionen. Außerdem benötigen wir Geld für die Forschung an den Universitäten. Aber das Allerwichtigste: Wir brauchen mehr gesellschaftliche Akzeptanz. Man muss den Leuten, die sich noch nie damit auseinandergesetzt haben, erklären, was E-Sport wirklich ist. Und für all das sollten sich Politiker einsetzen.
Über Ingo Froböse:
Ingo Froböse ist Universitätsprofessor an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Er wurde 1957 in Unna (Nordrhein-Westfalen) geboren und absolvierte später ein Sportstudium in Köln. Er hat zahlreiche Bücher zu den Themen Sport, Gesundheit und Ernährung verfasst und ist zudem auch Sachverständiger des Deutschen Bundestages in Fragen der Prävention.
Lukas Stern