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Enquete-Kommission Afghanistan Einsatzkräfte diskutieren über ihre Er­fahrungen aus dem Afghanistan-Einsatz

Mehr als 20 Jahre waren sie in Afghanistan im Einsatz. Nun stand die Perspektive der Einsatzkräfte im Mittelpunkt einer Diskussionsveranstaltung der Enquete-Kommission Afghanistan. Dabei ging es auch um die Frage: Welche Lehren sind aus dem Einsatz für die Zukunft zu ziehen?

Ehemalige Einsatzkräfte aus dem Afghanistan-Einsatz sitzen auf einem Podium.

Ehemalige Einsatzkräfte und Experten blicken zurück und sprechen über Lehren aus Afghanistan für andere Einsätze in der Zukunft. © DBT/Thomas Koehler/photothek

Bundeswehrsoldaten, Polizisten, Entwicklungshelfer: Die Perspektive der Einsatzkräfte, die zwischen 2001 und 2021 im Rahmen des internationalen Afghanistaneinsatzes vor Ort im Dienst waren, stand im Mittelpunkt der Diskussionsveranstaltung der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ am Dienstag, 19. März 2024 im Deutschen Bundestag. Zehn Vertreterinnen und Vertreter von Sicherheitskräften, aus Sanitätsdiensten und Seelsorge, Entwicklungs- und humanitärer Hilfe schilderten ihre Erfahrungen und zogen persönliche Schlussfolgerungen. Ihren Einsichten wollte die Politik mit der Veranstaltung eine Bühne geben und ihrem Einsatz, stellvertretend für alle Einsatzkräfte, eine Wertschätzung zuteil werden lassen.

Die Beiträge würden in die Arbeit der Enquete-Kommission einfließen, in der erstmals Bundestagsabgeordnete und Sachverständige ein außen- und sicherheitspolitisches Thema aufarbeiten, betonte Michael Müller (SPD), Vorsitzender der Enquete-Kommission. Das Gremium habe sich mit allen Facetten des Afghanistan-Engagements auseinandergesetzt und werde im kommenden Jahr seine Schlussfolgerungen vorlegen. Bereits der Zwischenbericht halte fest: Viel hat sich durch den professionellen Einsatz der deutschen Kräfte während der letzten zwei Jahrzehnte in Afghanistan verbessert. Es sei jedoch nicht gelungen diese Erfolge dauerhaft abzusichern. Von der Zielsetzung bis zum abrupten Abzug: Deutschland sei in Afghanistan „strategisch gescheitert“.

Verlustreichster Auslandseinsatz der BRD-Geschichte

Aus dem längsten, teuersten und verlustreichsten Auslandseinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik gelte es nun die richtigen Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen. Angesichts der Krisen und Kriege weltweit werde Deutschland mehr gefordert sein, sagte Müller. „Deutschland muss sich dazu verhalten. Wir müssen für uns eine Rolle definieren und in vielen Bereichen besser werden.“ Das Nachdenken darüber beginne bei der Auseinandersetzung mit Afghanistan. Dafür stehe die Enquete-Kommission mit ihrem überparteilichen Bericht.

In zwei Podiumsdiskussionen kamen ehemalige Einsatzkräfte zu Wort. Sich persönlich intensiv mit Afghanistan beschäftigt zu haben und intensiv mit Land und Leuten in Kontakt gekommen zu sein, verbuchte Oberstleutnant i.G. Mike Zimmermann als positive Erfahrung aus seinen Einsatzzeiten. Meinolf Schlotmann vom Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW unterstrich die hervorragende Arbeit der deutschen Kräfte in Afghanistan. Dabei nannte er den Beitrag der Bundespolizei zum reibungslosen Betrieb des Flughafens oder die Ausbildung von afghanischen Polizisten durch die Polizisten der deutschen Bundesländer. Vor Ort habe er sich auch regelmäßig mit den Vertretern anderer Ressorts ausgetauscht. Jeder Polizist, der ins Ausland gehe, erhalte ein Vorbereitungsseminar mit landeskundlichen Elementen.

Am Anfang stand die Euphorie

Viel zu früh abgezogen seien die internationalen Kräfte aus Afghanistan, beklagte Oberstleutnant a. D. Hubert Reiter. Anfangs sei man voller Euphorie gewesen und habe einen Zeitraum von mindestens drei Generationen für das Engagement dort veranschlagt. Dann hätte man Gewissheit gehabt, dass Menschen heranwachsen, die die Geschicke ihres Landes in die Hand nehmen können. Auch die Einheimischen seien voller Begeisterung gewesen, hätten auf die westlichen Soldaten und NGOs gewartet.

Thomas Herzberg, ehemals bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), merkte an, man müsse die Erfahrungen aus den zwei Jahrzehnten für aktuelle Einsätze nutzbar machen. Mit den Investitionen in Afghanistans Infrastrukturen, von Straßen über Krankenhäuser bis zu dem Flughafen, habe man dem Land sehr helfen können. Mit der lokalen Bevölkerung sei man schnell in Kontakt gekommen, da man anfangs ganz normal in der Stadt gewohnt habe. Für die Entwicklungszusammenarbeit neu sei die intensive Abstimmung mit Bundeswehr und Polizei gewesen. Mittlerweile sei es selbstverständlich, dass es dort zivile Berater gebe.

Mehr Akzeptanz schaffen

Dass die Erkenntnisse über den Afghanistan-Einsatz nicht im Bücherregal verstauben, diese Hoffnung äußerte Stabsfeldwebel d.R. Dunja Neukam vom Bund Deutscher EinsatzVeteranen e. V. Vielmehr sollten diese sich in künftigen Missionen widerspiegeln. Aus ihren Einsätzen nehme sie intensive Erfahrungen mit und behalte einen positiven Blick auf das Land am Hindukusch. „Wir haben in der Sanität viele zivile Einrichtungen unterstützt und konnten mit kleinen Eingriffen Menschen das Leben retten. Unsere Arbeit war in diesen Momenten so wertvoll – wir hatten das Gefühl: Es ist genau das Richtige, was wir hier tun.“ Der frühzeitige Abzug sei für die Soldatinnen und Soldaten ein „Schlag ins Gesicht“ gewesen.

Mehrfach gewürdigt wurde in der von der Politikwissenschaftlerin Dr. Jana Puglierin moderierten Diskussion die Rolle der afghanischen Ortskräfte. In einer zweiten Diskussionsrunde resümierte Hauptfeldwebel Maik Mutschke, der bei einem Einsatz schwer verwundet worden war, man habe es geschafft, dass in den zwanzig Jahren der internationalen Stabilisierungsmission in Afghanistan eine Generation in relativer Sicherheit habe aufwachsen können. Für deutsche Einsatzkräfte dürfe man die Fürsorge nicht vernachlässigen. In der Bevölkerung müsse um mehr Akzeptanz geworben werden für das, was in Afghanistan passiert sei. „Ich habe es erlebt. Wer will mir das wegnehmen?“ Aber warum nicht einmal den Einsatz in einem packenden Film für eine größere Zahl an Menschen zugänglich machen?

Eine Phase der Stabilität

Tanja Menz, Mitglied des Beirates für Fragen der Inneren Führung der Bundeswehr, hat ihren Sohn in Afghanistan verloren. Sie sagt sich: Es war nicht umsonst. Man habe den Menschen in Afghanistan eine Phase der Stabilität gegeben, in der sich ihr Leben, von den Bildungsmöglichkeiten bis zur Gesundheitsversorgung, beträchtlich verbessert habe. Es bestehe die Chance, dass davon etwas an die nächste Generation weitergegeben werde. In Deutschland solle man mehr über die kleinen Erfolge des Afghanistaneinsatzes reden.

Der Großteil der Arbeit liege noch vor der Enquete-Kommission, sagte Hans-Joachim Schmitz, Abteilungsleiter im Landeskriminalamt NRW. Entscheidend sei, aus den interessanten Erkenntnissen, die man nun gesammelt habe, die richtigen Lehren zu ziehen. Jeder Einsatz sei anders, man könne da nicht einfach etwas übertragen. Es komme bei jedem Auslandsengagement darauf an, sich über das Ziel im Klaren zu sein: Was wollen wir als Deutschland, als EU, als Nato? Und von Beginn an „den richtigen roten Faden zu spinnen“. Die Zielsetzung müsse während eines Einsatzes laufend überprüft werden. „Da haben wir Optimierungsbedarf.“ Und Vernetzung bedeute nicht einfach, dass man sich kennt, sondern abgestimmt und kohärent zu handeln.

Sensibilität für solche Einsätze soll wachsen

Militärdekan ThDr. Michael Rohde, Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr und Referent für seelsorgliche Einsatzbegleitung, berichtete von seiner herausfordernden Arbeit nach dem sogenannten Karfreitagsanschlag 2010, bei dem es zu einem Feuergefecht zwischen einer Fallschirmjägereinheit und der radikal-islamischen Taliban kam und drei deutsche Soldaten starben. Er wünsche sich, „dass die Sensibilität für solche Einsätze in der Bevölkerung wächst“. Mit dem abrupten Ende des Engagements sei für viele Einsatzkräfte eine Welt zusammengebrochen. Der geistige Anhaltspunkt, etwas Bleibendes geleistet zu haben, sei plötzlich nicht mehr da gewesen und viele hätten sich gefragt, worauf sie nun ihre psychische Gesundung aufbauen sollten. Zu den Lehren aus Afghanistan gehöre, dass Staat und Gesellschaft die seelische Gesundung ihrer Soldatinnen und Soldaten unterstützen müssen. Jetzt gelte es, die richtige seelsorgerische Begleitung für die Brigade in Litauen zu schaffen.

Die große Chance, die in der Arbeit der Enquete-Kommission liege, unterstrich Florian Westphal, Geschäftsführer, Save the Children Deutschland e. V. Sämtliche Einsatzkräfte, im zivilen wie im militärischen Bereich, müssten einander mit Respekt für ihre jeweiligen Ziele begegnen. Für die humanitären Hilfsorganisationen gehe die Arbeit weiter, es sei eine elementare Aufgabe. Man helfe Menschen, auch wenn sie im Einflussbereich des Feindes leben. Jeder, dem man habe helfen könne, sei bereits ein Erfolg – „unabhängig von dem strategischen Ansatz. Wir müssen einfach mit dem anfangen, was die Menschen vor Ort brauchen.“

Künftige Einsatzplanung mit strategischer Klarheit

„Diese zwanzig Jahre waren nicht umsonst“, resümierte die stellvertretende Vorsitzende der Enquete-Kommission, Serap Güler (CDU/CSU). Der Abzug sei zu früh erfolgt. Aber: „Wir haben es geschafft, eine ganze Generation in Frieden aufwachsen zu lassen.“ Man werde sich darum bemühen, die Sensibilität für derartige Einsätze zu erhöhen und den Einsatzkräften weiterhin eine gute Fürsorge zukommen zu lassen. Man werde zudem das Thema der Ortskräfte im Auge behalten. „Das Schicksal dieser Menschen ist uns nicht egal.“ Zu den jetzt schon greifbaren Lehren gehöre, bei der Einsatzplanung eine strategische Klarheit zu verfolgen, die realistische Ziele an den Anfang stelle und Ressorteitelkeiten überwinde.

Die gesamte Diskussionsveranstaltung

Dieser Text erschien zuerst auf bundestag.de.

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