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Medizinhistoriker „Sachliches wird zu emotional diskutiert“

Warum kochen die Gefühle beim Thema Impfen so hoch? Führt Impfzwang zu mehr Impfgegnern? Und was hat das mit Dinosauriern zu tun? Medizinhistoriker und Arzt Karl-Heinz Leven hat Antworten.

Portrait Karl-Heinz Leven

„Es ist immer wichtig, den individuellen Nutzen einer Impfung zu betonen“, sagt Medizinhistoriker Prof. Karl-Heinz Leven. So könne man gute Erfolge erzielen. © privat

Die Diskussion um eine mögliche Corona-Impfpflicht wird sehr emotional geführt. Manche sagen sogar: Sie spaltet die Gesellschaft. Ist das ein neues Phänomen?

Nein, das ist kein neues Phänomen. In der Medizingeschichte gab es bereits ab 1874 eine Impfpflicht, die Pockenschutzimpfung. Damals gab es auch Widerstand in der Bevölkerung. Und natürlich gab es auch Befürworter, sonst hätte man keine Impfpflicht eingeführt. Zwischen beiden Gruppen gab es Auseinandersetzungen. In der heutigen Debatte lassen sich einige Muster wiedererkennen, die es schon seit gut 150 Jahren gibt.

Und welche Muster kommen Ihnen bekannt vor?

Von beiden Seiten wird sehr engagiert und emotional diskutiert. Obwohl es eigentlich um ein Sachthema geht. Man könnte also erwarten, dass man sich auf naturwissenschaftlich begründbare Argumente besinnt und sachlich und objektiv diskutiert. Es ist aber sehr auffällig, dass schnell die Moral und die Emotionen ins Spiel kommen.

Die Impfbefürworter hatten damals gute sachliche Argumente, haben aber gleichzeitig die Gegner auf emotionale Weise abqualifiziert. Das kennt man auch aus der gegenwärtigen Debatte. Damals wie heute wusste man nicht wirklich, welche Langzeitwirkungen die Impfungen haben werden. Die Sorge darum ist berechtigt und ich finde, man muss sie auch als Impfbefürworter – wie ich es einer bin – anerkennen.

Die Impfpflicht wurde 1874 von Otto von Bismarck mit dem Reichsimpfgesetz eingeführt. Was stand da drin?

Das Reichsimpfgesetz schrieb vor, dass jedes Kind in Deutschland bis zum zweiten Lebensjahr und dann noch einmal bis zum zwölften Lebensjahr der Pockenschutzimpfung unterzogen werden muss. Die Pockenschutzimpfung war 80 Jahre zuvor in England erfunden worden, sie war also schon einige Jahrzehnte in Europa und auch Amerika angewandt worden. Mit guten Erfolgen: Das war eine vortreffliche Impfung, der wohl größte Wurf der Infektiologie – bis heute. An den Nutzen dieser Impfung ist danach nie wieder eine Impfung herangekommen.

Wie wurde damals bei Verstößen gegen die Impfpflicht vorgegangen?

Das ist eine wichtige Frage, denn viele Leute glauben, dass man mit einer Impfpflicht eine Impfrate von 100 Prozent erreichen wird. Das ist ein großer Irrtum. Das zeigte sich auch anhand der Pockenschutzimpfung: Es wurden ungefähr 70 Prozent der Bevölkerung geimpft. Das ist eine Quote, die wir auch mit der freiwilligen Corona-Impfung bereits erreicht haben.

Viele Leute hatten Bedenken, was die Pockenimpfung anging, weil es sich um einen tierischen Impfstoff handelte. Da gab es beispielsweise Gerüchte, man würde sich in eine Kuh verwandeln. Wenn man nicht wollte, dass das eigene Kind geimpft wurde, dann ging man zum Arzt und ließ sich dort eine Bescheinigung ausstellen, dass das Kind aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden könne.

In einigen sehr wenigen Fällen ist der Staat drastisch gegen Impfverweigerer vorgegangen, um ein Exempel zu statuieren und den Leuten Angst zu machen. Da wurden Kinder aus der Schule abgeholt, ins Impflokal gefahren und geimpft. Oder es wurden Geldstrafen verhängt.

Historisch gesehen: Führt Impfzwang zu mehr Impfgegnern?

Ich denke schon, ja. Der staatliche Eingriff, die Zwangsimpfung, weckt eher mehr Skepsis und Widerstand.

In Bundesländern wie Sachsen ist die Impfquote besonders niedrig. Hängt das mit der Impfpolitik zu DDR-Zeiten zusammen?

In der DDR gab es mehr Pflichtimpfungen als in Westdeutschland. In Westdeutschland war das Impfen nicht so sehr Staatsangelegenheit, sondern hat sich vor allem in die Kinderarztpraxen verlagert. In der DDR gehörte das Impfen hingegen zum Jugendschutz und zu der These „Der Sozialismus ist die beste Prophylaxe“. Man hat in den Jugendorganisationen vermehrt versucht, die Kinder abzugreifen und durchzuimpfen. Das hat dazu geführt, dass ehemalige DDR-Bürger bis heute einen sehr vollen Impfpass haben – aber viele fühlen sich damit, denke ich, auch ganz wohl.

In den neuen Bundesländern lässt sich vor allem ein anderes Phänomen beobachten, das in Zusammenhang mit der niedrigen Impfquote stehen könnte. Dort hat sich die Impfgegnerschaft mit politisch rechts orientierten Gruppierungen vereinigt. Der Widerstand ist hier AfD-orientiert. Das Thema Impfen wurde von rechts gekapert und damit Stimmung gegen die Regierung gemacht. In den westlichen Bundesländern ist der Impfwiderstand hingegen eher grün.

Können wir aus der Geschichte etwas lernen? Wie sollte man dem Impfwiderstand am besten begegnen?

Ich denke, es ist immer wichtig, den individuellen Nutzen einer Impfung zu betonen: Impfungen sind ja nicht nur gesamtgesellschaftlich wichtig, sondern sollen auch den Einzelnen schützen. Dieser Aspekt kann in Kampagnen stark herausgearbeitet werden und rückblickend scheint mir das in den letzten Jahrzehnten in Westdeutschland ganz gut gelungen. Deswegen wirkt die aktuelle Diskussion um die Corona-Impfpflicht auf mich wie ein Dinosaurier, der sich aus früheren Zeiten hierhin verirrt hat.

Zur Person

Karl-Heinz Leven ist Professor für Geschichte der Medizin und Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Erlangen Nürnberg. Nach der Schule studierte er Medizin, Geschichte und Klassische Philologie. 1985 erhielt er seine Approbation als Arzt, arbeitete aber weiterhin in der medizinhistorischen Forschung, unter anderem in Freiburg und Düsseldorf. Seuchengeschichte gehört zu seinen Arbeitsschwerpunkten.

(Mira Knauf)

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